Alienation

In der Psychologie, insbesondere in der Klärungsorientierten Psychotherapie (KOP) nach Rainer Sachse (basierend auf der PSI-Theorie von Kuhl und Beckmann), beschreibt Alienation (Entfremdung) den Zustand, in dem eine Person den Zugang zu ihrem eigenen Motiv- und Bedürfnissystem verloren hat.
Man kann also implizite Motive (unbewusste Präferenzen und Bedürfnisse) nicht mehr aktuell abrufen und weiß nicht oder nur schlecht, was man wirklich möchte, was einem guttut oder was einen zufrieden macht.

Zentrale Merkmale von Alienation

Das Konzept der Alienation wird als ein zentraler Mechanismus angesehen, der die Entstehung und Aufrechterhaltung vieler psychischer Probleme, aber auch chronischer Unzufriedenheit begünstigt, da die Betroffenen Entscheidungen treffen und Lebensweisen verfolgen, die nicht mit ihren inneren Bedürfnissen übereinstimmen. Hohe Alienation äußert sich unter anderem in:

  • Mangelnder Selbstrepräsentation:
    Man hat keine klare kognitive Repräsentation der eigenen „Präferenz-Struktur“ (Motive, Bedürfnisse, Ziele).
  • Entscheidungsschwäche:
    Aufgrund der Unklarheit über die eigenen Wünsche fällt es schwer, Entscheidungen zu treffen, die motivkompatibel sind.
  • Hohe Außenorientierung:
    Weil die internen Standards unklar sind, orientiert man sich stark an externalen Standards und den Erwartungen anderer (hohe Norm- und Erwartungsorientierung). Man lebt an den eigenen Motiven vorbei.
  • Verfolgung extrinsischer Ziele:
    Die Person verfolgt Ziele, die nicht aus dem eigenen inneren Antrieb kommen (Fremdsteuerung), was keine echte Zufriedenheit erzeugt und zu kumulativer Unzufriedenheit und Sinnlosigkeit führen kann.
  • Reflexionsvermeidung:
    Die ständige innere Unzufriedenheit und das Gefühl der Ausgeliefertheit führen oft dazu, dass die Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben systematisch vermieden wird, was die Alienation weiter verstärkt.

Relevanz bei psychischen Störungen

Alienation ist besonders bei Störungen von Bedeutung, die mit einer gestörten Selbstregulation und einer starken Außenorientierung einhergehen:

  • Persönlichkeitsstörungen:
    Alienation ist oft ein Kernproblem bei vielen Persönlichkeitsstörungen, da Betroffene aufgrund frühkindlicher Erfahrungen dysfunktionale Schemata entwickeln und den Zugang zu ihren authentischen Beziehungsmotiven verlieren. Sie passen sich extrem an die Erwartungen anderer an oder handeln strikt schemageleitet, anstatt ihren eigenen Bedürfnissen zu folgen.
  • Chronische Depressionen:
    Langfristige Unzufriedenheit und das Gefühl der Sinnlosigkeit sind häufige Folgen der Alienation. Wenn Menschen dauerhaft an ihren eigenen Motiven vorbeileben, führt dies zu einem Mangel an Selbstbekräftigung und dem Gefühl, keinen Einfluss auf die Umwelt zu haben, was depressive Zustände verstärkt.
  • Angststörungen und Zwangsstörungen (chronische Verläufe):
    Bei chronischen Verläufen können Ängste und Zwänge als Vermeidungsstrategien oder Ausdruck eines internalen Konflikts interpretiert werden, der durch die Entfremdung von den eigenen Bedürfnissen entsteht. Die Betroffenen vermeiden die Auseinandersetzung mit dem, was sie eigentlich fühlen oder brauchen (Reflexionsvermeidung).
  • Abhängigkeitserkrankungen:
    Alienation, dysfunktionale Schemata und eine mangelnde Motivation zur Veränderung sind häufige Begleiterscheinungen. Die Sucht kann dabei als ein (dysfunktionaler) Versuch interpretiert werden, die durch Alienation verursachte Leere oder innere Anspannung zu regulieren.
  • Psychosomatische Erkrankungen:
    Das Konzept spielt eine große Rolle bei psychosomatischen Problemen (z.B. chronisch-entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa). Hierbei wird angenommen, dass Betroffene oft eine hohe affektive Reflexionsvermeidung zeigen und die Wahrnehmung von Körpersignalen (wie Müdigkeit, Schmerz, Hunger) und damit auch der eigenen Bedürfnisse gehemmt ist, was die Entfremdung vom Selbst verstärkt.

Therapeutische Implikation

In der Behandlung im Rahmen der Klärungsorientierten Psychotherapie besteht der therapeutische Ansatz darin, durch gezielte Klärungsstrategien (Explizierung) den Zustand der Alienation aufzuheben.

  1. Ziel:
    ist, dass der Klient wieder einen bewussten Zugang zu seinen Beziehungsmotiven erhält und dadurch eine gesündere und erfüllendere Lebensführung etablieren kann.
  2. Vorgehen: 
    Der Therapeut unterstützt den Klienten aktiv dabei, seine aktuellen Motive und dysfunktionalen Schemata zu klären und in einen kognitiven Code zu übersetzen, sodass sie dem Klienten bewusst zugänglich werden.
  3. Folge:
    Durch die Klärung wird der Klient wieder selbstregulationsfähig, kann motivkompatible Entscheidungen treffen und konstruktiver handeln.
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