Multiaxiales System des DSM-IV

Das Multiaxiale System des DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4. Auflage) war ein strukturierter Ansatz zur Diagnosestellung in der klinischen Praxis. Sein Hauptziel war es, sicherzustellen, dass Diagnosen umfassend gestellt wurden, indem fünf verschiedene Aspekte oder Dimensionen der psychischen und physischen Gesundheit sowie des sozialen Umfelds des Patienten berücksichtigt wurden.

Obwohl dieses System mit der Einführung des DSM-5 im Jahr 2013 abgeschafft wurde, ist das Verständnis seiner Struktur für das historische Verständnis der Psychiatrie und der klinischen Psychologie von großer Bedeutung.

Achse I: Klinische Störungen und andere klinisch relevante Probleme

Diese Achse umfasste die Hauptdiagnose(n) oder den Zustand, der die primäre Aufmerksamkeit des Kliniker auf sich zog. Es handelte sich in der Regel um episodische Störungen oder Störungen, die typischerweise im Laufe des Lebens eines Menschen auftreten.

Achse II: Persönlichkeitsstörungen und Geistige Behinderung

Achse II war für die Kodierung von chronischen, tief verwurzelten und überdauernden Mustern von Wahrnehmung, Denken und Verhalten vorgesehen. Diese Muster sind oft weniger flexibel und verändern sich langsamer als Achse-I-Störungen. Die separate Kodierung sollte sicherstellen, dass diese chronischen Probleme nicht übersehen werden, da sie die Behandlung der Achse-I-Störung erheblich beeinflussen.

Achse III: Medizinische Krankheitsfaktoren

Hier wurden aktuelle körperliche Erkrankungen oder medizinische Zustände aufgeführt, die für das Verständnis, die Ätiologie (Ursache), die Prognose oder die Behandlung der psychischen Störung von Bedeutung waren.

  • Zweck:
    Hervorhebung der biologischen Komponente im bio-psycho-sozialen Modell. Es war wichtig zu prüfen, ob die psychischen Symptome eine direkte Folge der körperlichen Erkrankung oder deren Behandlung waren.
  • Beispiele:
    Schilddrüsenfehlfunktionen, Diabetes mellitus, Migräne, Asthma, Gehirnerschütterungen.

Achse IV: Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme

Achse IV diente zur Angabe von Stressoren und Umweltfaktoren aus dem Leben des Patienten innerhalb des letzten Jahres, die die Diagnose, Behandlung und Prognose der psychischen Störungen beeinflussen konnten.

  • Kategorien der Stressoren:
    Die Probleme wurden in neun Klassen eingeteilt (z. B. Probleme mit der Hauptbezugsgruppe, berufliche Probleme, wirtschaftliche Probleme, Wohnungsprobleme, Probleme im sozialen Umfeld).
  • Beispiele:
    • Verlust des Arbeitsplatzes.
    • Kürzliche Trennung oder Scheidung.
    • Tod eines geliebten Menschen.
    • Erheblicher finanzieller Verlust.
    • Opfer einer Straftat geworden.

Achse V: Globale Beurteilung des Funktionsniveaus (GAF-Skala)

Die GAF-Skala (Global Assessment of Functioning Scale) war ein numerischer Wert zwischen 1 und 100, der das globale psychische, soziale und berufliche Funktionsniveau einer Person abbildete. Ziel war es, eine einzige, leicht verständliche Kennzahl für den Schweregrad der Beeinträchtigung zu liefern.

  • Skalenwerte:
    • 91–100: Überragendes Funktionsniveau.
    • 61–70: Leichte Symptome (z. B. leichte Angst) oder leichte Beeinträchtigung (z. B. gelegentliche Fehlzeiten in der Schule).
    • 31–40: Ernsthafte Beeinträchtigung der Realitätskontrolle oder der Kommunikation ODER starke Beeinträchtigung in mehreren Bereichen (Arbeit, Familie, Urteilsvermögen).
    • 1–10: Anhaltende Gefahr, sich selbst oder andere schwer zu verletzen, oder anhaltende Unfähigkeit, minimale Hygiene aufrechtzuerhalten.

Warum wurde das System abgeschafft? (Übergang zum DSM-5)

Das multiaxiale System wurde mit der Veröffentlichung des DSM-5 im Jahr 2013 abgeschafft, hauptsächlich aus folgenden Gründen:

  1. Geringe klinische Nützlichkeit (Achsen IV und V):
    Die GAF-Skala (Achse V) wurde wegen ihrer geringen Reliabilität (Zuverlässigkeit) und Validität stark kritisiert. Die Achse IV (psychosoziale Probleme) wurde oft unzureichend genutzt.
  2. Künstliche Trennung von Achse I und II:
    Die Trennung von klinischen Störungen (Achse I) und Persönlichkeitsstörungen/Intelligenzminderung (Achse II) wurde als willkürlich empfunden, da es oft erhebliche Überschneidungen und Komorbiditäten gab.
  3. Vereinfachung und Harmonisierung:
    Das DSM-5 integrierte die Achsen I, II und III zu einem einzigen Abschnitt und ersetzt die Achsen IV und V durch die ICD-10-Z-Codes und eine neue dimensionale Messung der Schweregrade und der Beeinträchtigung. Dadurch wurde die Klassifikation in der Praxis vereinfacht und die Kompatibilität mit der ICD verbessert.

Kritik an der Abschaffung des Multiaxialen Systems

Die Abschaffung des Multiaxialen Systems (Achsen I-V) des DSM-IV zugunsten eines monoaxialen Systems im DSM-5 war eine der zentralen und am stärksten kritisierten Änderungen.

Kritiker bemängeln hauptsächlich den Verlust an klinischer Information und die Vernachlässigung kontextueller Faktoren, die für eine umfassende Behandlungsplanung wichtig sind.

1. Verlust der systematischen Erfassung von Kontextfaktoren

Das Hauptanliegen des Multiaxialen Systems im DSM-IV war es, Kliniker zu zwingen, bei der Diagnosestellung einen ganzheitlichen Blick einzunehmen, der über die primäre psychische Störung hinausgeht.

  • Verlust des Fokus auf Achse II (Persönlichkeitsstörungen):
    Im DSM-IV wurde die Persönlichkeitsstörung (Achse II) bewusst von der Hauptdiagnose (Achse I) getrennt erfasst. Kritiker befürchten, dass diese Trennung und die damit verbundene hohe klinische Relevanz der Persönlichkeitsstörungen im DSM-5 weniger Beachtung findet, da nun alles in einem einzigen System zusammengefasst ist.
  • Vernachlässigung psychosozialer und Umweltfaktoren (Achse IV):
    Achse IV des DSM-IV war dazu gedacht, relevante Stressoren und psychosoziale Probleme (z.B. Arbeitsplatzverlust, Scheidung, Armut) systematisch zu erfassen. Die Abschaffung dieser Achse könnte dazu führen, dass diese entscheidenden Kontextfaktoren in der routinemäßigen klinischen Praxis übersehen oder weniger gewichtet werden.
  • Vernachlässigung der globalen Funktionsfähigkeit (Achse V/GAF):
    Die Achse V verwendete die Global Assessment of Functioning Scale (GAF), um die allgemeine Funktionsfähigkeit einer Person zu quantifizieren. Trotz ihrer Kritik war die GAF ein einfacher numerischer Wert, der den Schweregrad der Beeinträchtigung abbildete. Im DSM-5 wurde die GAF durch verschiedene dimensionale Maße ersetzt, von denen Kritiker befürchten, dass sie komplexer, weniger konsistent und in der alltäglichen Praxis seltener genutzt werden.

2. Inkonsistenzen in der Integration

Die neue, monoaxiale Struktur des DSM-5 führt alle Achsen (I bis III) in einer Hauptliste zusammen. Kritiker sehen hier eine Verwischung klarer diagnostischer Linien:

  • Medizinische vs. Psychiatrische Diagnose:
    Im DSM-IV wurden körperliche Krankheiten (Achse III) klar von psychischen Störungen (Achse I und II) getrennt. Die Integration erschwert es dem Kliniker unter Umständen, die Kausalität oder den Wechselbezug zwischen körperlichen und psychischen Leiden sofort zu erkennen.

3. Begründung der APA für die Abschaffung

Die American Psychiatric Association (APA) begründete die Abschaffung des Multiaxialen Systems im DSM-5 hauptsächlich mit folgenden Punkten:

  • Geringe klinische Nutzung:
    Das System wurde in der klinischen Praxis und Forschung kaum einheitlich genutzt, insbesondere die Achsen IV und V (GAF).
  • Eliminierung künstlicher Unterschiede:
    Die Unterscheidung zwischen Achse I (klinische Störungen) und Achse II (Persönlichkeitsstörungen und Entwicklungsstörungen) wurde als künstlich angesehen, da diese Störungen sich oft überschneiden und gemeinsam auftreten (Komorbidität).
  • Harmonisierung mit ICD:
    Die neue Struktur sollte eine bessere Angleichung an das von der WHO herausgegebene Klassifikationssystem ICD (International Classification of Diseases) erreichen.

Die Kritik bleibt jedoch bestehen: Während das System vereinfacht wurde, verlor die klinische Darstellung die strukturierte Erinnerung an die biopsychosozialen Einflussfaktoren auf die psychische Gesundheit.

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