Bindungstheorie

Die Bindungstheorie ist eine der einflussreichsten entwicklungspsychologischen Theorien und wurde maßgeblich vom britischen Psychiater John Bowlby und der kanadisch-amerikanischen Psychologin Mary Ainsworth entwickelt. Sie besagt, dass Menschen ein angeborenes Bedürfnis nach engen, emotionalen Beziehungen haben, insbesondere in der frühen Kindheit, um Schutz und Sicherheit zu erfahren.

John Bowlby: Das Bindungssystem

Bowlby postulierte, dass die Bindung zwischen Kind und primärer Bezugsperson (meist die Mutter) ein instinktives, evolutionär bedingtes Verhalten ist, das das Überleben des Kindes sichert.

  • Bindungsverhalten:
    Angeborene Verhaltensweisen des Kindes (wie Weinen, Schreien, Lächeln, Klammern), die darauf abzielen, die Nähe zur Bezugsperson herzustellen und aufrechtzuerhalten.
  • Sicherer Hafen (Safe Haven):
    Die Bezugsperson dient als sicherer Hafen, zu dem das Kind bei Angst, Gefahr oder Stress zurückkehren kann, um Trost und Beruhigung zu finden.
  • Sichere Basis (Secure Base):
    Die Bezugsperson dient als sichere Basis, von der aus das Kind die Umgebung erkunden (Exploration) kann. Eine sichere Bindung fördert die Exploration und damit die kognitive und soziale Entwicklung.
  • Innere Arbeitsmodelle (Internal Working Models):
    Die frühen Bindungserfahrungen führen zur Entwicklung innerer, unbewusster Schemata darüber, wie Beziehungen funktionieren und wie liebenswert die eigene Person ist. Diese Modelle prägen die Beziehungsgestaltung bis ins Erwachsenenalter.

Mary Ainsworth: Die Bindungsstile

Mary Ainsworth entwickelte auf Basis von Bowlbys Theorie das experimentelle Verfahren des „Fremde-Situations-Tests“ (Strange Situation Procedure), um die Qualität der Bindung bei 12 bis 18 Monate alten Kindern zu untersuchen. Sie identifizierte daraus drei (später vier) Haupt-Bindungsstile:

BindungsstilEntstehungsursache (Elternverhalten)Verhalten des Kindes im Test
1. Sicher (B-Typ)Feinfühlig, schnell und angemessen auf die kindlichen Bedürfnisse reagierend.Weint bei Trennung, sucht bei Rückkehr der Bezugsperson aktiv die Nähe, lässt sich trösten und nimmt das Spiel wieder auf.
2. Unsicher-Vermeidend (A-Typ)Abweisend oder wenig feinfühlig auf die kindlichen Signale reagierend.Zeigt äußerlich kaum Stress bei Trennung, ignoriert oder meidet die Bezugsperson bei ihrer Rückkehr. Es hat gelernt, seine Bedürfnisse zu unterdrücken.
3. Unsicher-Ambivalent (C-Typ)Inkonstant oder unberechenbar auf die kindlichen Signale reagierend.Zeigt starken Stress bei Trennung, sucht bei Rückkehr die Nähe, verhält sich aber gleichzeitig widersprüchlich (klammern und abwehren/wütend sein).
4. Desorganisiert (D-Typ)Widersprüchliches oder ängstigendes Verhalten der Bezugsperson (z. B. Misshandlung, Trauma der Eltern).Zeigt konfuses, chaotisches oder widersprüchliches Verhalten; wirkt desorientiert, ängstlich. Dieser Typ ist am stärksten mit psychischen Problemen assoziiert.

Bedeutung für das Erwachsenenalter

Die in der Kindheit entwickelten Bindungsstile gelten als relativ stabil und beeinflussen die Beziehungsgestaltung im Erwachsenenalter, insbesondere in Liebesbeziehungen und Freundschaften. Ein sicherer Bindungsstil wird mit höherer Beziehungszufriedenheit, besserer Stressbewältigung und mehr psychischer Gesundheit in Verbindung gebracht.

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