Sozialer Rückzug
Sozialer Rückzug (auch soziale Vermeidung) ist in der Psychologie ein komplexes Verhaltensmuster, das eine Reduzierung der sozialen Interaktionen und die Vermeidung von Kontakten mit anderen Menschen beschreibt.
Es ist oft ein Symptom oder eine Bewältigungsstrategie bei verschiedenen psychischen Störungen, kann aber auch eine vorübergehende, situative Reaktion auf Stress oder Überforderung sein.
Psychologische Erklärung und Funktion
Sozialer Rückzug erfüllt für die betroffene Person meist eine Schutzfunktion, auch wenn er langfristig dysfunktional ist:
- Vermeidung von Angst und Scham:
Der Rückzug dient als primärer Abwehrmechanismus gegen die Angst, die in sozialen Situationen ausgelöst wird (z. B. Angst vor Bewertung, Ablehnung, Peinlichkeit oder sozialer Phobie). Durch die Vermeidung wird die erwartete negative Konsequenz verhindert. - Schutz vor Überforderung:
Bei Überlastung oder anhaltendem Stress bietet die Isolation einen Raum zur Regulation und zur Wiederherstellung von Energie. Bei Personen mit hoher Sensibilität kann dies ein notwendiger Schutz vor sensorischer oder emotionaler Überstimulation sein. - Ausdruck von Depression:
Bei einer Depression signalisiert der Rückzug oft Antriebslosigkeit, Interessenverlust und die Unfähigkeit, Freude aus sozialen Aktivitäten zu ziehen. Die Person zieht sich zurück, weil sie die Energie für Interaktion verloren hat.
Komorbidität und Störungsbilder
Sozialer Rückzug ist ein häufiges Symptom bei einer Vielzahl von psychischen Erkrankungen:
- Depressive Störungen:
Der Rückzug ist ein zentrales Symptom der Major Depression und Dysthymie (Anhaltende Depressive Störung). - Angststörungen:
- Soziale Phobie:
Die massive Angst vor negativer Bewertung ist der direkte Motor für die Vermeidung sozialer Situationen. - Agoraphobie:
Die Angst vor Panikattacken an öffentlichen Orten führt zum Rückzug in die vermeintliche Sicherheit der eigenen Wohnung.
- Soziale Phobie:
- Psychotische Störungen:
Bei Schizophrenie kann der Rückzug ein frühes Warnzeichen (Prodromalsymptom) oder ein Negativsymptom sein, das durch Affektverflachung und den Verlust des sozialen Interesses bedingt ist. - Persönlichkeitsstörungen:
- Schizoide Persönlichkeitsstörung:
Betroffene ziehen sich nicht aus Angst zurück, sondern haben tatsächlich kein oder nur wenig Bedürfnis nach sozialen Kontakten und Nähe. - Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung:
Hier ist der Rückzug durch die Angst vor Kritik, Scham und Ablehnung motiviert.
- Schizoide Persönlichkeitsstörung:
Auswirkungen und Chronifizierung
Obwohl der Rückzug kurzfristig Erleichterung verschaffen kann, führt er langfristig oft zu einer Chronifizierung des Problems und negativen Konsequenzen:
- Vermeidungsspirale:
Je mehr soziale Situationen vermieden werden, desto größer wird die Angst vor ihnen. Die soziale Kompetenz nimmt ab, was die Angst weiter verstärkt. - Verlust sozialer Unterstützung:
Die Isolation führt zum Verlust des sozialen Netzwerks, das jedoch eine wichtige Pufferfunktion gegen Stress und psychische Erkrankungen darstellt. - Verstärkung der Depression:
Der Mangel an sozialen Aktivitäten führt zu einem Mangel an positiven Erfahrungen, was die depressive Stimmung verstärkt (Teufelskreis der Depression).
Die Therapie des sozialen Rückzugs zielt daher meist darauf ab, die zugrundeliegende Angst oder Depression zu behandeln und die Patienten schrittweise (z. B. durch Expositionstraining) wieder an soziale Interaktionen heranzuführen.
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