Autoaggression
Autoaggression (auch Selbstverletzendes Verhalten) ist ein umfassender psychologischer Begriff für jedes Verhalten, das darauf abzielt, dem eigenen Körper oder der eigenen Psyche bewusst Schaden zuzufügen.
Sie ist primär keine suizidale Handlung, sondern eine oft unbewusst erlernte, wenn auch maladaptive Coping-Strategie zur Bewältigung unerträglicher innerer Zustände.
Ursachen für Autoaggression
Die Ursachen für Autoaggression (Selbstverletzendes Verhalten, NSSV) sind in der Psychologie multifaktoriell; sie resultieren aus einem komplexen Zusammenspiel von biologischen, psychischen (insbesondere Emotionsregulation) und sozialen Faktoren. Die Hauptursache liegt in der Unfähigkeit, intensive negative Emotionen funktional zu regulieren.
1. Neurobiologische und Genetische Vulnerabilität
Biologische Faktoren erhöhen die Anfälligkeit (Vulnerabilität), die Fähigkeit zur Emotionsregulation zu entwickeln.
- Genetische Prädisposition:
Studien zeigen eine erhöhte Veranlagung für Impulsivität und psychische Störungen (wie Depressionen oder Borderline-Persönlichkeitsstörung), die oft mit Autoaggression einhergehen. - Neurotransmitter-Dysfunktion:
Eine Dysregulation von Neurotransmittern, insbesondere Serotonin (verbunden mit Impulskontrolle und Stimmung) und Dopamin (verbunden mit Belohnung und Spannung), spielt eine Rolle. - Erhöhte Reaktivität (Hyperarousal):
Einige Menschen reagieren biologisch stärker auf Stressreize, was zu schneller und intensiver emotionaler Überflutung führt.
2. Psychologische und Traumatische Ursachen
Dies sind die häufigsten direkten psychologischen Mechanismen, die zur Autoaggression führen.
- Traumatische Erfahrungen:
Frühkindliche Traumata (z. B. körperlicher, sexueller oder emotionaler Missbrauch oder Vernachlässigung) sind ein massiver Risikofaktor. Diese Erfahrungen können die Entwicklung gesunder Emotionsregulationsstrategien blockieren. - Affektdysregulation:
Die primäre Ursache. Die Betroffenen haben keine effektiven Skills gelernt, um intensive negative Emotionen (wie Wut, Scham, Angst, Verzweiflung) auszuhalten oder zu beruhigen. Die Selbstverletzung wird zur schnellen, wenn auch dysfunktionalen, Lösung dieser Spannung. - Psychodynamische Verschiebung:
Fehlgeleitete Aggression. Aggression, die ursprünglich gegen Täter oder Bezugspersonen gerichtet war, wird aus Angst vor Ablehnung oder Bestrafung verinnerlicht und gegen das eigene Selbst gerichtet (Selbstbestrafung). - Dissoziation und Leere:
Die Selbstverletzung wird eingesetzt, um einen Zustand der emotionalen Taubheit oder Dissoziation (ein Gefühl der Abgetrenntheit von sich selbst oder der Umgebung) zu beenden. Der körperliche Schmerz dient als Anker in die Realität und hilft, sich „wieder zu spüren“.
3. Soziale und Umweltbedingte Ursachen
Das soziale Umfeld und die frühkindliche Beziehungserfahrung beeinflussen, ob die Vulnerabilität tatsächlich zu autoaggressivem Verhalten führt.
- Dysfunktionale Bindungsmuster:
Eltern, die emotional nicht verfügbar waren oder die emotionalen Bedürfnisse des Kindes invalidiert (entwertet) haben, verhindern die Entwicklung einer stabilen Emotionsregulation. Das Kind lernt, dass seine inneren Zustände nicht wichtig sind. - Modelllernen:
Die Beobachtung von selbstschädigendem Verhalten in der Familie oder im sozialen Umfeld (Peergroup) kann, besonders in der Adoleszenz, die Hemmschwelle senken und das Verhalten als Bewältigungsstrategie erlernen. - Mangelnde Kommunikationsfähigkeit:
Die Unfähigkeit, innere Not in Worte zu fassen oder um Hilfe zu bitten. Die körperliche Verletzung wird zur nonverbalen Kommunikation des Schmerzes oder der Not, da die Betroffenen glauben, anders nicht gehört zu werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Autoaggression meist als eine maladaptive Bewältigungsstrategie entsteht, bei der die Person versucht, einen unerträglichen inneren Zustand mithilfe von körperlichem Schmerz zu kontrollieren oder zu beenden.
Formen und Beispiele für Autoaggression
Autoaggressives Verhalten reicht von direkter körperlicher Schädigung bis hin zu subtilen, chronischen Mustern der Selbstsabotage.
Direkte, körperliche Autoaggression (NSSV)
Dies sind Handlungen, die unmittelbar zu physischen Verletzungen führen und oft im klinischen Kontext der Nicht-suizidalen Selbstverletzung (NSSV) behandelt werden.
| Form | Definition | Typische Beispiele |
| Kutane (Haut-) Schädigung | Direkter Angriff auf die Hautintegrität. | Schneiden (häufigste Form, z.B. mit Rasierklingen, Glasscherben), Verbrennen (z.B. mit Zigaretten oder Feuerzeugen), Kratzen/Zupfen bis zur Blutung. |
| Interne Schädigung | Verletzungen, die auf innere Körperteile abzielen. | Schlagen des Kopfes gegen die Wand, Bissverletzungen (eigene Gliedmaßen), absichtliches Verhindern der Wundheilung. |
| Verhaltensbezogene Attacken | Impulse, die körperliche Unversehrtheit gefährden. | Sich mit voller Wucht gegen Gegenstände werfen, Haare ausreißen (Trichotillomanie), Haut manipulieren (Dermatillomanie). |
Wichtig: Obwohl NSSV nicht die primäre Absicht hat, zu sterben, erhöht es das langfristige Risiko für suizidales Verhalten, da die Hemmschwelle zur Selbstschädigung sinkt.
Indirekte und Verdeckte Autoaggression
Diese Muster schädigen die Person langfristig oder beeinträchtigen ihr Wohlbefinden, sind aber nicht immer sofort als Aggression erkennbar.
| Bereich | Erklärung und Funktion | Typische Beispiele |
| Gesundheitsrisiko | Unverantwortliche, die Gesundheit gefährdende Lebensführung. | Massiver Alkohol– und Drogenmissbrauch (Selbstmedikation), Essstörungen (Anorexie, Bulimie), gefährliches Fahren. |
| Soziale Sabotage | Unbewusstes Handeln, das soziale Bindungen zerstört. | Unprovoziertes Beenden positiver Beziehungen, ständige berufliche Selbstsabotage kurz vor dem Erfolg, chronische Isolation. |
| Psychische Schädigung | Anhaltende innere Kritik und Selbstentwertung. | Chronische Selbstkritik, die in destruktive Gedanken mündet, Verweigerung von Hilfe oder Behandlung. |
| Vernachlässigung | Mangelnde Sorge um eigene Grundbedürfnisse. | Vernachlässigung der Hygiene, Verzicht auf notwendige Arztbesuche, chronischer Schlafmangel. |
Psychologische Erklärungsmodelle
Die moderne Psychologie betrachtet Autoaggression als ein komplexes Phänomen, das meist in einem Zusammenhang von Trauma, Emotionsdysregulation und einem Defizit in der Bewältigungsstrategie entsteht.
1. Dysfunktionale Emotionsregulation (DBT-Ansatz)
Dies ist der am häufigsten genannte Mechanismus, insbesondere bei Borderline-Persönlichkeitsstörung und komplexen Traumafolgestörungen:
- Hohe Spannung:
Der Patient erlebt unerträglich intensive, schnell wechselnde negative Emotionen (Wut, Verzweiflung, Angst). - Affektive Taubheit:
Manchmal führt die Intensität auch zu einem Gefühl der emotionalen Leere oder Dissoziation. - Spannungslösung:
Die körperliche Verletzung dient als dysfunktionaler „Notfall-Skill“, um diese unerträgliche innere Spannung schnell zu reduzieren. Der Schmerz lenkt ab, beendet die Dissoziation oder führt zu einer biochemischen Schmerz- und Spannungsreduktion.
2. Kognitive Modelle
- Kernüberzeugungen:
Autoaggressives Verhalten wird oft durch tief verwurzelte, negative Kernüberzeugungen befeuert (z.B. „Ich bin schlecht,“ „Ich verdiene es nicht, glücklich zu sein“). - Kompensation:
Die Tat dient als Versuch, Schuld oder Scham zu kompensieren oder eine Bestätigung der eigenen Wertlosigkeit zu erhalten.
3. Psychodynamische Sicht (Internalisierte Aggression)
Hier wird Autoaggression als fehlgeleitete Aggression verstanden.
- Fehlleitung:
Ursprüngliche Wut– oder Aggressionsimpulse, die gegen eine externe Person (oft Bezugspersonen in der Kindheit) gerichtet waren, wurden aus Angst vor Ablehnung oder Bestrafung nicht ausgedrückt. - Internalisierung:
Die Aggression wird verinnerlicht und richtet sich gegen das eigene Selbst. Die Selbstverletzung wird zur symbolischen Bestrafung des „schlechten“ oder „fehlerhaften“ Selbst.
Komorbidität bei Autoaggression
Komorbidität (das gleichzeitige Auftreten mehrerer psychischer Störungen) ist bei Menschen mit Autoaggression die Regel und nicht die Ausnahme. Selbstverletzung tritt nur selten als isoliertes Problem auf, sondern ist meist ein Symptom oder eine Bewältigungsstrategie im Rahmen einer schwerwiegenderen primären psychischen Erkrankung.
Hier sind die häufigsten komorbiden Störungen:
Persönlichkeitsstörungen
Persönlichkeitsstörungen, insbesondere solche, die durch Affektdysregulation und Impulsivität gekennzeichnet sind, zeigen die höchste Komorbiditätsrate mit Autoaggression.
- Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS):
Dies ist die häufigste komorbide Diagnose. Selbstverletzendes Verhalten ist eines der neun diagnostischen Kriterien der BPS. Die Autoaggression dient hier primär der Spannungsreduktion und der Regulierung intensiver, schnell wechselnder Emotionen. - Antisoziale Persönlichkeitsstörung:
Kann mit Autoaggression einhergehen, ist aber seltener als BPS. Das Verhalten dient hier oft der Manipulation oder ist impulsiv.
Affektive Störungen
Autoaggression tritt häufig als dysfunktionale Bewältigungsstrategie bei Störungen auf, die mit starken Stimmungsschwankungen und Leidensdruck verbunden sind.
- Depressive Störungen (Major Depression):
Selbstverletzung kann als Ausdruck von Schuldgefühlen, Selbstbestrafung oder Hoffnungslosigkeit auftreten. Der körperliche Schmerz dient manchen Patienten dazu, sich aus dem Zustand der emotionalen Taubheit (Numbing) oder der Leere herauszuholen. - Bipolare Störungen:
Während manischer oder gemischter Episoden kann die extreme Impulsivität und das hohe Erregungsniveau zu selbstschädigendem und risikoreichem Verhalten führen.
Traumafolgestörungen
Ein sehr hoher Prozentsatz der Patienten mit Autoaggression berichtet von traumatischen Erfahrungen (z. B. Missbrauch, Vernachlässigung).
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und Komplexe PTBS:
Selbstverletzung kann ein Versuch sein, Flashbacks zu beenden, Dissoziation zu kontrollieren oder die emotionale Überflutung zu unterbrechen, die durch traumatische Erinnerungen ausgelöst wird. - Dissoziative Störungen:
Die Selbstverletzung kann dazu dienen, die Realität zu spüren und der Entfremdung von sich selbst (Depersonalisation) oder der Umwelt (Derealisation) entgegenzuwirken.
Essstörungen
Das selbstschädigende Verhalten richtet sich hier oft gegen den Körper, die Komorbidität ist hoch.
- Anorexia Nervosa (Magersucht) und Bulimia Nervosa (Bulimie): Die extremen Diätmaßnahmen oder das Erbrechen werden als Formen der indirekten Autoaggression betrachtet. Direkte Selbstverletzung (Schneiden, Schlagen) ist in diesen Patientengruppen ebenfalls deutlich häufiger als in der Allgemeinbevölkerung.
Sucht und Impulskontrollstörungen
Da Autoaggression selbst oft impulsiv geschieht, bestehen Überschneidungen zu verwandten Störungsbildern.
- Substanzstörungen (Alkohol– und Drogenabhängigkeit):
Suchtmittel werden häufig als Selbstmedikation zur akuten Stress– und Spannungsreduktion eingesetzt. Die komorbide Selbstverletzung tritt oft unter dem Einfluss von Substanzen auf, wenn die Hemmschwelle sinkt. - Impulskontrollstörungen:
Störungen wie Trichotillomanie (Haare ausreißen) und Dermatillomanie (Haut zwanghaft manipulieren) werden zwar als eigene Störungen klassifiziert, teilen jedoch den Mechanismus der Spannungsreduktion durch die körperliche Handlung.
Therapie der Autoaggression
Die Therapie der Autoaggression ist komplex, da sie nicht nur das Verhalten selbst, sondern auch die zugrundeliegende Emotionsdysregulation und oft komorbide Störungen (wie Borderline-Persönlichkeitsstörung oder PTBS) behandeln muss.
Die Behandlung basiert hauptsächlich auf der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) und ihren Weiterentwicklungen.
Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT)
Die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT), entwickelt von Marsha Linehan, ist die am besten untersuchte und effektivste Methode zur Behandlung von Autoaggression, insbesondere im Kontext der Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Hauptziele
- Emotionsregulation:
Patienten lernen, intensive und schnell wechselnde Emotionen zu erkennen und zu beeinflussen. - Stärkung der Skills:
Aufbau funktionaler Bewältigungsstrategien (Skills) zur Bewältigung akuter Anspannung und Krisen. - Akzeptanz und Veränderung:
Die Balance zwischen dem Akzeptieren des aktuellen Zustands und dem Verändern dysfunktionaler Verhaltensweisen (wie der Selbstverletzung).
Die Rolle der Skills
DBT-Skills dienen dazu, die Funktion der Selbstverletzung (Spannungsreduktion) auf eine gesündere Weise zu erfüllen:
| Skill-Kategorie | Ziel | Konkrete Beispiele |
| Tolerieren von Anspannung | Ablenkung von der Spannung und Aushalten der negativen Emotion. | Intensive Reize (Eiswürfel fest halten, sehr saure/scharfe Lebensmittel essen), körperliche Aktivität (Squats, schnelles Gehen), Ablenkung (Kopfrechnen, soziale Kontakte). |
| Emotionsregulation | Emotionszustände verändern und kontrollieren. | Gegensteuernde Aktivitäten (etwas tun, das Freude macht), Entspannungstechniken (Atemübungen), Prüfen der Fakten (kognitive Umstrukturierung). |
| Achtsamkeit | Bewusste, nicht-wertende Wahrnehmung des Hier und Jetzt. | Fokussierung auf die fünf Sinne, um Dissoziation und Grübeln zu unterbrechen. |
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
Die KVT wird eingesetzt, um die Auslöser der Autoaggression zu analysieren und die dysfunktionalen Gedankenmuster zu bearbeiten.
- Verhaltensanalyse:
Detaillierte Analyse der Situationen, Gedanken und Gefühle, die dem selbstverletzenden Impuls vorausgehen (ABC-Analyse). - Kognitive Umstrukturierung:
Bearbeitung der negativen Kernüberzeugungen (z. B. „Ich bin wertlos“), die das Gefühl der Notwendigkeit zur Selbstbestrafung befeuern. - Habit Reversal Training (HRT):
Bei körperbezogenen Zwängen (wie Trichotillomanie) wird eine konkurrierende, inkompatible Reaktion (z.B. Fäuste ballen) eingeübt, wenn der Impuls zur Selbstverletzung auftritt.
Traumatherapie
Da viele autoaggressive Verhaltensweisen auf unverarbeitete Traumata zurückzuführen sind, ist die Trauma-Behandlung oft ein zentraler Bestandteil.
- Stabilisierung:
Vor der eigentlichen Traumabearbeitung muss die Selbstverletzung in der Regel unter Kontrolle sein. Das Erlernen von DBT-Skills dient als primäre Stabilisierungsmaßnahme. - Traumakonfrontation und -verarbeitung:
Verfahren wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) oder Traumafokussierte KVT helfen, die traumatischen Erinnerungen zu verarbeiten und die emotionale Überflutung zu reduzieren, die oft die Autoaggression auslöst.
Rolle der therapeutischen Beziehung
Unabhängig von der Methode ist die Beziehung zum Therapeuten (tragfähige therapeutische Allianz) entscheidend. Der Therapeut bietet einen sicheren Rahmen, in dem die Patienten die intensive Wut und Verzweiflung, die zur Selbstverletzung führen, verbalisieren können, anstatt sie auszuleben.
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