Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung (ÄVPS)
Die Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung (ÄVPS), im ICD-10 unter F60.6 als Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung und im DSM-5 als Avoidant Personality Disorder klassifiziert, gehört zum Cluster C („ängstlich, furchtsam“) der Persönlichkeitsstörungen.
Sie ist charakterisiert durch ein tiefgreifendes Muster sozialer Gehemmtheit, Gefühle der Unzulänglichkeit und eine extreme Überempfindlichkeit gegenüber negativer Bewertung.
Psychologische Kernmerkmale und Symptome
Der zentrale Konflikt der ÄVPS liegt in der Diskrepanz zwischen dem starken Wunsch nach Nähe und Akzeptanz und der überwältigenden Angst vor Ablehnung und Kritik.
Für eine Diagnose (nach DSM-5) muss ein überdauerndes Muster vorliegen und mindestens vier der folgenden Kriterien erfüllt sein:
Symptom-Bereich | DSM-5 Kriterien | Psychologische Bedeutung |
Vermeidung | Vermeidet berufliche Tätigkeiten, die viel zwischenmenschlichen Kontakt erfordern, aus Angst vor Kritik, Missbilligung oder Ablehnung. | Die Angst vor Versagen oder Beschämung ist so groß, dass sie berufliche Weiterentwicklung verhindert. |
Soziale Hemmung | Unlust, sich mit Menschen einzulassen, es sei denn, man ist sich sicher, gemocht zu werden. | Die Notwendigkeit der garantierten Akzeptanz führt zu sozialer Isolation. |
Intimität | Gehemmt in intimen Beziehungen, weil Angst vor Beschämung oder Lächerlichmachung besteht. | Nähe wird als Risiko wahrgenommen. |
Überempfindlichkeit | Übermäßige Beschäftigung mit Kritik und Ablehnung in sozialen Situationen. | Neutrale oder vage Aussagen werden als Kritik interpretiert (negativer Attributionsstil). |
Selbstbild | Sieht sich selbst als sozial unbeholfen, persönlich unattraktiv oder minderwertig im Vergleich zu anderen. | Ein niedriges, instabiles Selbstwertgefühl ist zentral. |
Zurückhaltung | Gehemmt in neuen sozialen Situationen aufgrund von Gefühlen der Unzulänglichkeit. | Mangelnde soziale Fertigkeiten durch jahrelange Vermeidung. |
Risikovermeidung | Geht ungern persönliche Risiken ein oder beteiligt sich an neuen Aktivitäten, weil sie sich als peinlich erweisen könnten. | Ein Leben in der Komfortzone zur maximalen Vermeidung von Bloßstellung. |
Psychologische Erklärungsmodelle
Ursachen
Die ÄVPS wird durch ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren begünstigt:
- Biologische Vulnerabilität:
Eine angeborene, erhöhte Ängstlichkeit oder Scheu (Verhaltenshemmung) im Kindesalter. - Entwicklungsfaktoren/Umfeld:
- Invalidierende Erfahrungen:
Wiederholte Zurückweisung oder übermäßige Kritik durch primäre Bezugspersonen. - Überbehütung:
Das Kind lernt nicht, Situationen selbstständig zu meistern.
- Invalidierende Erfahrungen:
- Kognitive Schemata:
Die Betroffenen entwickeln starre, negative Grundüberzeugungen (Schemata) über sich selbst („Ich bin unzulänglich“, „Ich bin unattraktiv“) und die Welt („Andere werden mich ablehnen oder demütigen“).
Abgrenzung zur Sozialen Phobie
Obwohl sich ÄVPS und Soziale Phobie (Soziale Angststörung) stark ähneln, liegt der Unterschied in der Tiefe des Problems:
- Soziale Phobie:
Die Angst ist primär auf Leistungssituationen oder spezifische soziale Interaktionen (z. B. Vorträge, Essen vor anderen) beschränkt. Die Betroffenen sind sich oft bewusst, dass ihre Angst übertrieben ist (ego-dyston). - ÄVPS:
Die Ängste und Vermeidung sind ein tiefgreifendes, unflexibles Muster der gesamten Persönlichkeit und des Selbstbildes (ego-synton). Das Minderwertigkeitsgefühl ist allgegenwärtig.
Behandlung
Die Behandlung ist primär psychotherapeutisch und zielt darauf ab, die Vermeidung zu durchbrechen und das dysfunktionale Selbstbild zu korrigieren.
- Kognitive Verhaltenstherapie (KVT):
Besonders wirksam. Sie beinhaltet:- Kognitive Umstrukturierung:
Korrektur der negativen Überzeugungen über sich selbst und die Interpretation von Kritik. - Expositionstherapie:
Gezielte, schrittweise Konfrontation mit den gefürchteten sozialen Situationen (z. B. Kontaktaufnahme, Kritik üben/annehmen). - Soziale Kompetenztrainings:
Aufbau von Fertigkeiten für den Umgang mit anderen Menschen.
- Kognitive Umstrukturierung:
- Psychodynamische Therapien/Schema-Therapie:
Helfen, die frühkindlichen Ursachen und Muster der Angst und Vermeidung zu verstehen und zu bearbeiten. - Medikamente:
Können zur Linderung begleitender Angstsymptome oder einer komorbiden Depression eingesetzt werden (z. B. SSRI-Antidepressiva), ersetzen aber nicht die Psychotherapie.