Amnesie
Amnesie ist ein zentrales Konzept in der psychologischen und neurologischen Forschung und bezieht sich auf den teilweisen oder vollständigen Verlust der Gedächtnisfähigkeit.
Psychologisch gesehen ist Amnesie nicht einfach nur „Vergessen“, sondern oft eine spezifische Störung der Speicherung, Konsolidierung oder des Abrufs von Informationen.
Definition und Arten der Amnesie
Amnesie wird nach dem Zeitpunkt des Gedächtnisverlusts in Bezug auf das schädigende Ereignis (z. B. Trauma, Krankheit, Verletzung) klassifiziert.
1. Retrograde Amnesie (Gedächtnisverlust für die Vergangenheit)
- Definition:
Die Unfähigkeit, sich an Ereignisse zu erinnern, die vor dem schädigenden Ereignis (dem auslösenden Moment des Gedächtnisverlusts) stattfanden. - Merkmal:
Das Gedächtnis ist für alte, weit zurückliegende Ereignisse oft besser erhalten, während die Erinnerungen kurz vor dem Ereignis (z.B. der Unfall selbst) am stärksten betroffen sind.
2. Anterograde Amnesie (Gedächtnisverlust für die Zukunft)
- Definition:
Die Unfähigkeit, neue Informationen zu lernen und zu speichern, die nach dem schädigenden Ereignis präsentiert werden. - Merkmal:
Der Patient kann sich an seine Vergangenheit (vor dem Ereignis) erinnern, ist aber nicht in der Lage, sich an neue Menschen, Orte oder Ereignisse zu erinnern, die er seit dem Ereignis erlebt hat. Die Gegenwart „verschwindet“ ständig.
3. Globale Amnesie
- Definition:
Eine Kombination aus retrograder und anterograder Amnesie. Der Patient hat große Schwierigkeiten, sich an die Vergangenheit zu erinnern, und ist unfähig, neue Erinnerungen zu bilden.
Psychologische Klassifikation
Die Psychologie unterscheidet Amnesie auch danach, welche Art von Gedächtnis betroffen ist:
| Art des Gedächtnisses | Beschreibung | Amnesie-Folge |
| Explizites (Deklaratives) Gedächtnis | Bewusst abrufbare Fakten und Ereignisse. | Amnesie ist primär ein Verlust des deklarativen Gedächtnisses. (Fakten, Biografisches) |
| Episodisches Gedächtnis | Erinnerungen an persönliche Erlebnisse (Was, wann, wo). | Am stärksten von der Amnesie betroffen. |
| Semantisches Gedächtnis | Allgemeines Wissen und Fakten (Sprache, Hauptstädte). | Kann erhalten bleiben, auch wenn das episodische Gedächtnis verloren ist. |
| Implizites (Nicht-deklaratives) Gedächtnis | Unbewusstes Gedächtnis (Fertigkeiten, Gewohnheiten, Priming). | Bleibt oft erhalten. Amnesie-Patienten können neue Fertigkeiten erlernen, ohne sich daran erinnern zu können, wann und wo sie diese gelernt haben. |
Ursachen und Pathologie
Amnesie kann durch organische oder psychogene Faktoren verursacht werden:
1. Organische Ursachen (Hirnschädigu
Die häufigste Ursache ist eine Schädigung des Hippocampus und des Diencephalons (Zwischenhirn), da diese Strukturen für die Konsolidierung neuer Erinnerungen zentral sind.
- Trauma:
Schädel-Hirn-Trauma (häufig nach Unfällen). - Schlaganfall/Ischämie:
Sauerstoffmangel im Gehirn. - Korsakow-Syndrom:
Eine Form der anterograden Amnesie, die durch schweren Vitamin-B1-Mangel (häufig bei chronischem Alkoholmissbrauch) verursacht wird.
2. Psychogene (Dissoziative) Amnesie (ICD-10: F44.0)
- Definition:
Ein Gedächtnisverlust, der nicht durch eine direkte Hirnschädigung verursacht wird, sondern durch schwerwiegende psychische Belastungen oder Traumata. - Merkmal:
Betrifft oft spezifische traumatische Ereignisse oder Zeiträume und ist ein Abwehrmechanismus des Gehirns. Die Erinnerungen sind nicht zerstört, sondern können vom bewussten Abruf abgespalten sein. - Häufig:
Kann als dissoziative Fugue auftreten, bei der der Patient plötzlich den Verlust der eigenen Identität oder der persönlichen Vergangenheit erlebt und oft den Wohnort verlässt.