Anorexie
Die Anorexia Nervosa (kurz Anorexie oder Magersucht) ist eine schwere, behandlungsbedürftige psychische Essstörung. Sie ist gekennzeichnet durch eine selbst herbeigeführte und aufrechterhaltene Untergewichtigkeit bei gleichzeitiger verzerrter Körperwahrnehmung.
Kriterien und Symptome
Typisch ist ein deutlicher Gewichtsverlust oder anhaltendes Untergewicht (meist BMI 18,5). Die Betroffenen nehmen sich trotz Untergewicht als unförmig und zu dick wahr. Diese verzerrte Körperwahrnehmung führt dazu, dass sie die Schwere ihres Zustandes häufig nicht erkennen können.
Kernmerkmale sind:
- Essensrestriktion:
Um eine gefürchtete Gewichtszunahme zu verhindern, schränken Betroffene die Nahrungsaufnahme extrem ein (v. a. bei Kalorien), entwickeln strikte Regeln und Rituale (z. B. langsames Essen, Kleinschneiden, Kalorienzählen). - Kontrollzwang:
Die Gedanken kreisen permanent um Essen, Gewicht und Figur. Der Wunsch, die Kontrolle darüber zu behalten, ist zentral. - Kompensationsverhalten:
Viele treiben übermäßig Sport. Einige wenden zusätzlich Purging-Verhalten an (selbst herbeigeführtes Erbrechen oder Abführmittelmissbrauch). - Verlauf:
Die Magersucht beginnt vor allem in der Pubertät, kann aber auch junge Erwachsene und Kinder betreffen.
Ursachen und Auslöser
Die Erkrankung entsteht durch das Zusammenspiel mehrerer biologischer, psychologischer und soziokultureller Faktoren.
Ursachen (Vulnerabilitätsfaktoren)
- Biologisch/Körperlich:
- Eine erbliche Veranlagung,
- frühes gestörtes Essverhalten oder
- Diäthalten in der Kindheit.
- Psychologisch:
- Geringes Selbstwertgefühl,
- Perfektionismus und
- hohe Ansprüche an das Aussehen.
- Gesellschaftlich:
- Das vorherrschende Schlankheitsideal, das Attraktivität mit dünner Figur gleichsetzt.
Auslöser (Trigger)
- Belastende Lebensereignisse wie:
- Mobbing,
- Trennung,
- Umzug oder ein
- Verlust.
- Pubertät:
Die körperlichen und hormonellen Veränderungen in dieser Lebensphase. - Leistungssport:
Ein erhöhtes Risiko besteht bei Sportarten, die eine schlanke Figur oder ein geringes Körpergewicht erfordern (z. B. Ballett, Turnen).
Weitere Symptome, Komplikationen und Verlauf
Die Magersucht beeinträchtigt Wohlbefinden und Gesundheit massiv.
Körperliche Folgen
Die Mangelernährung führt zu:
- Herz-Kreislauf-Problemen:
- Zu langsamer Herzschlag (Bradykardie),
- Kreislaufbeschwerden,
- Herzrhythmusstörungen (potenziell lebensgefährlich).
- Hormonelle Veränderungen:
- Bei Frauen bleibt die Monatsblutung (Amenorrhoe) aus;
- bei Jugendlichen verzögert sich die Pubertät/das Wachstum;
- bei Männern kann die Potenz leiden.
- Weitere Schäden:
- Osteoporose (Knochenschwund),
- Haarausfall,
- trockene Haut,
- Lanugo-Behaarung (feiner Flaum).
- Erbrechen schädigt Zähne und Speiseröhre.
Psychische und Soziale Folgen
- Anfängliche Euphorie über die Kontrolle schlägt in Gleichgültigkeit, depressive Stimmung und Reizbarkeit um.
- Das kontrollierte Verhalten wird zu einem Zwang, aus dem Betroffene ohne Hilfe nicht ausbrechen können.
- Häufiger sozialer Rückzug und Isolation aus Angst vor Ablehnung und Stigmatisierung.
- Hohe Komorbidität (gleichzeitiges Auftreten) mit anderen Störungen wie Depressionen, Angst– oder Zwangsstörungen.
Behandlung und Prognose
Behandlung
Da sich Betroffene oft nicht als krank empfinden, suchen sie meist erst spät Hilfe. Die Behandlung ist multimodal und muss abhängig vom Schweregrad individuell angepasst werden.
- Ziel:
Zunächst Linderung akuter Symptome und Gewichtszunahme; danach die Betrachtung der auslösenden Faktoren und die Entwicklung von Rückfallstrategien. - Methoden:
- Medizinische/Akutbehandlung:
Priorität hat die Wiederherstellung des Körpergewichts und die Stabilisierung der lebenswichtigen Körperfunktionen. Bei starkem Untergewicht erfolgt die Behandlung oft stationär, um das Risiko des Refeeding-Syndroms zu kontrollieren. - Psychotherapie:
- Familienbasierte Therapie (FBT/Maudeley-Ansatz):
Erste Wahl bei Jugendlichen, bei der die Eltern die Verantwortung für die Normalisierung der Ernährung übernehmen. - Kognitive Verhaltenstherapie (KVT):
Fokussiert auf die Änderung dysfunktionaler Gedanken (Angst vor Gewichtszunahme) und die Etablierung eines gesunden Essverhaltens. - Psychodynamische/Tiefenpsychologisch fundierte Verfahren:
Bearbeiten die zugrunde liegenden Konflikte, die oft mit Kontrolle, Autonomie und Beziehungen zusammenhängen.
- Familienbasierte Therapie (FBT/Maudeley-Ansatz):
- Medizinische/Akutbehandlung:
- Nachsorge:
Auch nach einer erfolgreichen Behandlung ist eine konsequente Nachsorge wichtig, um Rückfällen vorzubeugen.
Prognose
Die Anorexie hat die höchste Mortalitätsrate unter allen psychischen Störungen.
- Das Sterberisiko ist mehr als 5-fach erhöht, wobei die Todesursachen meist die Folge der Mangelernährung sind.
- Etwa jeder fünfte Todesfall ist auf Suizid zurückzuführen, da das Risiko, sich selbst das Leben zu nehmen, bis zu 18-fach höher ist als bei Gesunden.
- Ungefähr 50 % der Betroffenen genesen vollständig.
- Etwa 30 % zeigen eine deutliche Besserung (Teilremission).
- Etwa 20 % entwickeln einen chronischen Verlauf.
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