Chronische Schmerzen

In der Psychologie werden chronische Schmerzen nicht als reines körperliches, sondern als bio-psycho-soziales Phänomen betrachtet. Psychische und soziale Faktoren spielen eine entscheidende Rolle sowohl bei der Entstehung als auch bei der Aufrechterhaltung des Schmerzes.

Definition

Chronischer Schmerz ist definiert als Schmerz, der länger als drei bis sechs Monate andauert und seine ursprüngliche Warn- und Schutzfunktion verloren hat.

Psychologische Erklärungsmodelle

Das bio-psycho-soziale Modell ist das führende Konzept. Es besagt, dass biologische, psychologische und soziale Einflüsse wechselseitig aufeinander wirken und einen Teufelskreis der Chronifizierung bilden.

Das „Fear-Avoidance“-Modell (Angst-Vermeidungs-Modell)

Dieses Modell erklärt, wie aus einem akuten Schmerz ein chronischer Schmerz wird:

  1. Schmerzerlebnis:
    Eine Person spürt Schmerz.
  2. Katastrophisieren:
    Die Person interpretiert den Schmerz als gefährlich oder katastrophal („Bewegung macht es schlimmer“).
  3. Angst und Furcht:
    Es entsteht Angst vor Schmerz (Schmerzphobie) oder Verletzung.
  4. Vermeidungsverhalten (Schonung):
    Um Schmerz zu vermeiden, werden Aktivitäten und Bewegungen reduziert oder ganz eingestellt.
  5. Folgen:
    Die Inaktivität führt zu körperlicher Dekonditionierung (Muskelabbau, Gelenkversteifung) und sozialem Rückzug. Diese Faktoren verstärken den Schmerz und die psychische Belastung, was den Kreislauf weiter antreibt.

Zentrale psychologische Faktoren

Verschiedene psychische und kognitive Faktoren verstärken oder vermindern das Schmerzerleben:

  • Katastrophisieren:
    Die Tendenz, Schmerzerlebnisse zu übertreiben, sich hilflos zu fühlen und ständig über den Schmerz zu grübeln. Dies erhöht die Schmerzempfindlichkeit.
  • Angst und Depression:
    Chronische Schmerzen können zu Depressionen und Angststörungen führen; umgekehrt können Depressionen und Ängste die Schmerzverarbeitung im Gehirn verändern und die Schmerzwahrnehmung verstärken.
  • Stress und Anspannung:
    Anhaltender psychischer oder körperlicher Stress führt zu erhöhter Muskelspannung, was Schmerzen (insbesondere Kopf- und Rückenschmerzen) oft direkt auslösen oder verstärken kann.
  • Kontrollverlust:
    Das Gefühl, den Schmerz nicht kontrollieren oder beeinflussen zu können, verstärkt Hilflosigkeit und Verzweiflung.
  • Schmerzgedächtnis:
    Bei chronischen Schmerzen verändern sich Nervenzellen und Schmerzzentren im Gehirn nachhaltig. Das Nervensystem „lernt“ den Schmerz, sodass dieser auch ohne klare körperliche Ursache ausgelöst wird.

Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung

Chronische Schmerzen sind in der Bevölkerung weit verbreitet und stellen somit auch in der psychotherapeutischen Praxis ein häufiges Vorkommen dar, sowohl als Hauptproblem als auch als Begleitsymptom anderer psychischer Störungen.

  • Rund 23 Millionen Menschen in Deutschland berichten über chronische Schmerzen (Dauer länger als 6 Monate).
  • Etwa 6 Millionen Menschen leiden unter einem chronischen, beeinträchtigenden Schmerz, bei dem der Schmerz eine eigenständige Erkrankung mit starken Einschränkungen der Lebensqualität darstellt (sogenannte Schmerzkrankheit).
  • Die häufigsten chronischen Schmerzformen sind Rücken- und Kopfschmerzen.

Vorkommen in der Psychotherapie

Die enge Verflechtung des bio-psycho-sozialen Modells führt dazu, dass Patienten mit chronischen Schmerzen oft auch psychisch belastet sind und psychotherapeutische Hilfe suchen oder benötigen.

  • Komorbidität: Chronischer Schmerz geht sehr häufig mit psychischen Begleiterkrankungen einher.
    • Patienten mit chronischen Schmerzen sind deutlich häufiger von Angst– und depressiven Störungen betroffen als die Allgemeinbevölkerung. Eine Metaanalyse zeigte, dass bis zu 40,2 % der Schmerzpatienten die Kriterien für eine klinische Angststörung und 37,7 % für eine Depression erfüllen.
    • Besonders hoch ist diese Komorbidität bei chronischen Schmerzsyndromen wie dem Fibromyalgiesyndrom (Depressionsraten oft über 50 %).
  • Wechselseitige Abhängigkeit:
    In der Psychotherapie sind Schmerzen oft nicht nur eine Folge, sondern auch ein auslösendes oder aufrechterhaltendes Element einer primären psychischen Störung (z.B. Somatoforme Schmerzstörung, die nun in der ICD-11 als „Körperstressstörung“ klassifiziert wird). Hier ist der Schmerz selbst der Ausdruck psychischer Belastung.
  • Häufigkeit in spezialisierten Praxen:
    Obwohl nur ein kleiner Teil der Schmerzpatienten initial einen Psychotherapeuten aufsucht (da sie primär Schmerzmediziner oder Orthopäden konsultieren), sind chronische Schmerzen ein Kernbereich in der psychosomatischen Medizin und in spezialisierten Schmerzzentren (multimodale Schmerztherapie).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass chronische Schmerzen bei Psychotherapiepatienten zwar nicht immer der primäre Überweisungsgrund sind, aber eine sehr häufige und klinisch relevante Begleit- oder Kernsymptomatik darstellen.

Psychotherapeutische Behandlung

Die Psychotherapie ist ein essenzieller Bestandteil der multimodalen Schmerztherapie, die Ärzte, Psychologen und Physiotherapeuten interdisziplinär zusammenführt.

Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)

Die Kognitive Verhaltenstherapie ist die am besten untersuchte und wirksamste psychotherapeutische Methode bei chronischen Schmerzen. Ziele sind:

  • Kognitive Umstrukturierung:
    Negative, schmerzverstärkende Gedanken („Ich werde nie wieder gesund“, „Ich darf mich nicht bewegen“) werden identifiziert und durch hilfreichere Denkweisen ersetzt.
  • Aktivitätsaufbau:
    Der Fokus liegt auf der langsamen, graduellen Wiederaufnahme von Aktivitäten, um den Teufelskreis der Schonung und Dekonditionierung zu durchbrechen. Es geht darum, Aktivität zu lernen, die trotz des Schmerzes möglich ist.
  • Schmerzbewältigung:
    Erlernen von Techniken zur Schmerzreduktion (z.B. Entspannungsverfahren, Ablenkung, Achtsamkeit).
  • Psychoedukation:
    Aufklärung über das bio-psycho-soziale Schmerzmodell und das Schmerzgedächtnis, um das Verständnis für die eigene Erkrankung zu verbessern.

Ziel der psychologischen Behandlung ist es nicht primär, den Schmerz vollständig zu beseitigen, sondern die Kontrolle über das Leben zurückzugewinnen und die Lebensqualität trotz des Schmerzes zu verbessern.

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