Erwartungsverletzung

Die Erwartungsverletzung (auch Diskonfirmation oder englisch Expectancy Violation) ist ein Schlüsselkonzept in der Psychologie, insbesondere in der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) und der Angstforschung.

Sie beschreibt den therapeutischen Mechanismus, durch den neue, korrigierende Lernerfahrungen gemacht werden, die irrationale oder dysfunktionale Überzeugungen ersetzen.

Definition und Mechanismus

  • Definition:
    Eine Erwartungsverletzung tritt ein, wenn eine Person eine Situation erlebt, deren tatsächliches Ergebnis den negativen Voraussagen oder Befürchtungen der Person widerspricht.
  • Ziel:
    Die Verletzung der Erwartung dient dazu, die zugrunde liegenden dysfunktionalen Kognitionen (Gedanken, Annahmen, Schemata) zu schwächen oder zu widerlegen.
  • Beispiel (Panikstörung):
    Ein Patient mit Panikstörung befürchtet bei Herzrasen: „Ich werde einen Herzinfarkt erleiden und sterben.“ Erlebt er nun im Rahmen eines Verhaltensexperiments (oder einer Konfrontation) bewusst und wiederholt Herzrasen, ohne dass der Herzinfarkt eintritt, wird seine Erwartung verletzt.

Der Lernprozess

Die Wirksamkeit der Erwartungsverletzung beruht auf der Erkenntnis, dass die Angst nicht nur auf dem Reiz selbst, sondern vor allem auf der Interpretation des Reizes basiert.

Schritt Beschreibung
1. Befürchtung (Erwartung) „Wenn ich das mache (z. B. eine Spinne anfasse), passiert X (z. B. sie springt mir ins Gesicht und beißt mich tödlich).“
2. Exposition/Testung Die Person führt die Handlung aus (sie fasst die Spinne an) oder konfrontiert den Reiz, idealerweise ohne Sicherheitsverhalten.
3. Erwartungsverletzung X tritt nicht ein. Stattdessen tritt Y ein (z. B. die Spinne bewegt sich kaum oder reagiert gar nicht).
4. Korrigierende Erfahrung Die ursprüngliche Angst-Hypothese wird widerlegt. Die Überzeugung, dass der Reiz katastrophale Folgen hat, wird abgeschwächt.

Anwendung in der Therapie

Die Erwartungsverletzung ist der Kernmechanismus der Expositionstherapie und der Verhaltensexperimente in der KVT:

  • Exposition bei Angststörungen:
    Bei Phobien oder Panikstörungen werden Patienten den gefürchteten Reizen ausgesetzt, bis sie erleben, dass die befürchtete Katastrophe nicht eintritt. Das Ziel ist nicht primär die Gewöhnung (Habituation) an die Angst, sondern die Widerlegung der Bedrohungsannahmen.
  • Verhaltensexperimente:
    Hier wird die Erwartungsverletzung gezielt eingesetzt, um kognitive Hypothesen zu prüfen. Wenn ein Patient mit Sozialer Phobie befürchtet, dass alle über ihn lachen, wenn er stottert, führt er absichtlich ein Gespräch, in dem er stottert. Erlebt er keine Ablehnung, wird seine Erwartung verletzt, und die dysfunktionale Kognition wird korrigiert.

Zusammenfassend: Die Erwartungsverletzung ermöglicht es, die logische und emotionale Verbindung zwischen dem Reiz und der befürchteten negativen Konsequenz zu durchtrennen und dadurch einen nachhaltigen kognitiven Wandel herbeizuführen.

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