Gedächtnis

Das Gedächtnis ist eines der komplexesten Konzepte der kognitiven Psychologie. Es bezeichnet die Fähigkeit eines Organismus, Informationen aufzunehmen (kodieren), zu speichern und zu einem späteren Zeitpunkt wieder abzurufen.

Das menschliche Gedächtnis ist keine einzelne Einheit, sondern ein System von interagierenden Prozessen und Speichern. Das am weitesten akzeptierte Strukturmodell ist das Mehrspeichermodell (Multi-Store Model) nach Atkinson und Shiffrin (1968).

Das Mehrspeichermodell (Atkinson & Shiffrin)

Dieses Modell unterteilt das Gedächtnis in drei sequentielle Hauptspeicher:

1. Sensorisches Gedächtnis (Ultra-Kurzzeitgedächtnis)

  • Funktion:
    Hält eine exakte Kopie sensorischer Reize für sehr kurze Zeit fest.
  • Kapazität:
    Sehr groß (praktisch unbegrenzt).
  • Dauer:
    Extrem kurz (visuelle Reize: Ikonisches Gedächtnis ≈ 0,5 Sekunden; auditive Reize: Echoisches Gedächtnis ≈ 2-4  Sekunden).
  • Prozess:
    Der Großteil der Information geht verloren; nur die Informationen, denen Aufmerksamkeit geschenkt wird, werden weitergeleitet.

2. Kurzzeitgedächtnis (KZG) / Arbeitsgedächtnis

  • Funktion:
    Speicher zur aktiven Verarbeitung, Organisation und kurzfristigen Aufrechterhaltung von Informationen.
  • Kapazität:
    Stark limitiert. Nach Miller: 7 ± 2 Informationseinheiten (Chunks).
  • Dauer:
    Kurz (etwa 15 bis 30 Sekunden) ohne Wiederholung (Rehearsal).
  • Prozess:
    Informationen können durch Wiederholung (Rehearsal) im KZG gehalten oder durch Enkodierung ins Langzeitgedächtnis überführt werden. Das moderne Konzept des Arbeitsgedächtnisses (Baddeley & Hitch) betrachtet dieses nicht nur als passiven Speicher, sondern als aktives System zur Manipulation von Informationen.

3. Langzeitgedächtnis (LZG)

  • Funktion:
    Dauerhafte Speicherung von Wissen, Erfahrungen und Fertigkeiten.
  • Kapazität:
    Praktisch unbegrenzt.
  • Dauer:
    Von Minuten bis zu Jahrzehnten.
  • Prozess:
    Die Speicherung erfolgt durch Kodierung (z.B. elaboriertes Wiederholen, Verknüpfung mit bereits Bekanntem) und der Abruf durch Zugriff (Retrieval).

Die Unterteilung des Langzeitgedächtnisses

Das LZG wird semantisch und prozedural unterschieden:

Kategorie Typen Beschreibung
Explizites (Deklaratives) Gedächtnis Bewusster Abruf. Wissen und Erfahrungen, die bewusst erinnert werden können.
Semantisches Gedächtnis Faktenwissen, Begriffe und allgemeine Weltkenntnis (z.B. „Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands“).
Episodisches Gedächtnis Persönliche Erlebnisse, Ereignisse an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit (z.B. „Mein letzter Urlaub in Berlin“).
Implizites (Non-Deklaratives) Gedächtnis Unbewusster Abruf. Wissen, das Verhalten beeinflusst, ohne bewusst erinnert zu werden.
Prozedurales Gedächtnis Fertigkeiten und motorische Abläufe (z.B. Radfahren, Tippen, Tanzen).
Priming Erleichterung der Verarbeitung eines Reizes durch eine vorherige Erfahrung damit.

Gedächtnisstörungen

  • Amnesie: Gedächtnisverlust, oft durch Hirnschädigung (Hippocampus):
    • Anterograde Amnesie:
      Unfähigkeit, neue Informationen nach der Schädigung zu speichern (LZG-Kodierung ist gestört).
    • Retrograde Amnesie:
      Unfähigkeit, auf alte Erinnerungen vor der Schädigung zuzugreifen.
  • Interferenz: Störungen im Abruf durch überlagernde Informationen:
    • Proaktive Interferenz:
      Alte Informationen stören das Lernen neuer Informationen.
    • Retroaktive Interferenz:
      Neue Informationen stören den Abruf alter Informationen.
  • Vergessen: Der natürliche Verlust oder die erschwerte Zugänglichkeit von Informationen, oft durch mangelnde Nutzung (Zerfall der Gedächtnisspur).
« zurück zum Glossar-Index