Grenzziehung
Grenzziehung (Boundary Setting) bezeichnet in der Psychologie, insbesondere in der Therapie und Beratung, den Prozess der Festlegung und Kommunikation von klaren Regeln und Leitlinien darüber, wie man von anderen behandelt werden möchte, was man bereit ist zu tolerieren und was nicht.
Gesunde Grenzen sind essenziell für die psychische Gesundheit, die Autonomie und die Aufrechterhaltung von funktionalen Beziehungen. Sie dienen als Schutzmechanismus für den eigenen Selbstwert und das Energielevel.
Definition und Funktion von Grenzen
Grenzen definieren das „Was bin ich“ (meine Gefühle, Bedürfnisse, Verantwortung) und das „Was ist der andere“ (seine Gefühle, Bedürfnisse, Verantwortung).
| Art der Grenze | Fokus | Beispiel für eine gesunde Grenze |
| Physische Grenzen | Körperlicher Raum und Berührung. | „Fass mich bitte nicht ohne Vorwarnung an.“ |
| Emotionale Grenzen | Abgrenzung der eigenen Gefühle und der Verantwortung für die Gefühle anderer. | „Ich bin für meine Gefühle verantwortlich, aber nicht für deine Wut.“ |
| Zeitliche/Energetische Grenzen | Umgang mit der eigenen Zeit, Energie und Aufmerksamkeit. | „Ich kann dir dabei helfen, aber ich habe heute nur 30 Minuten Zeit.“ |
| Materielle Grenzen | Umgang mit Besitztümern, Geld und Eigentum. | „Ich leihe dir das Buch, aber ich brauche es nächste Woche zurück.“ |
| Kognitive Grenzen | Schutz der eigenen Gedanken, Meinungen und Werte. | „Ich respektiere deine Meinung, aber ich sehe das anders und werde nicht darüber streiten.“ |
Funktion: Grenzen verhindern, dass man sich durch die Probleme oder Forderungen anderer erschöpft, manipuliert oder überfordert fühlt.
Formen Dysfunktionaler Grenzen
Probleme entstehen, wenn Grenzen entweder zu starr oder zu porös sind:
| Form | Beschreibung | Psychologische Gefahr |
| Poröse/Schwache Grenzen | Zu wenig Abgrenzung. Man übernimmt die Gefühle und Probleme anderer, opfert die eigenen Bedürfnisse und ist leicht zu manipulieren. | Führt zu Burnout, Groll und Co-Abhängigkeit. |
| Starre/Dicke Grenzen | Zu viel Abgrenzung. Man hält Menschen konsequent auf Distanz, vermeidet Intimität und wirkt unzugänglich. | Führt zu Isolation, Einsamkeit und verhindert tiefe, vertrauensvolle Nähe. |
| Fehlende Grenzen (Verschmelzung) | Die Identität und die Gefühle der Partner verschwimmen (Enmeshment). | Führt zur Verlust der eigenen Identität und Unfähigkeit zur Autonomie. |
Psychologische Ursachen für schwache Grenzen
Die Unfähigkeit, gesunde Grenzen zu setzen, hat oft Wurzeln in der Kindheit und in den Inneren Arbeitsmodellen (Bindungstheorie):
- Konditionierung:
Wurde in der Kindheit gelernt, dass die eigenen Bedürfnisse weniger wichtig sind als die der Eltern (z.B. in narzisstischen oder chaotischen Familiensystemen). - Furcht vor Ablehnung:
Die Angst, durch das Setzen einer Grenze die Zuneigung oder die Beziehung zu verlieren („Wenn ich Nein sage, bin ich nicht liebenswert“). - Geringer Selbstwert:
Die Überzeugung, man habe kein Recht auf eigene Bedürfnisse oder auf Respekt.
Grenzziehung in der Therapie
Die Therapie, besonders die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) und die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT), betrachtet das Erlernen der Grenzziehung als zentralen Skill:
- Bewusstwerdung:
Das Erkennen der eigenen Rechte und das Identifizieren der Bereiche, in denen die Grenzen chronisch verletzt werden. - Assertivitätstraining:
Erlernen, Grenzen klar, ruhig und wertschätzend zu kommunizieren (mit Ich-Botschaften), anstatt aggressiv oder passiv-aggressiv zu reagieren. - Widerstand (Standing firm):
Das Aushalten des Unbehagens, das entsteht, wenn die andere Person auf die neue Grenze mit Wut, Traurigkeit oder Schuldgefühlen reagiert. - Konsequenz:
Die Fähigkeit, die Konsequenzen anzudrohen und durchzusetzen, falls die Grenze wiederholt missachtet wird (z.B. „Wenn du mich weiter anschreist, beende ich das Gespräch“).