Parentifizierung

Der Begriff Parentifizierung in der Psychologie beschreibt eine Rollenumkehr innerhalb der Familie, bei der ein Kind Aufgaben und Verantwortlichkeiten übernimmt, die eigentlich den Eltern zustehen und seinem Alter sowie Entwicklungsstand nicht angemessen sind. Das Kind rutscht dadurch in die Elternrolle und wird oft als „kleiner Erwachsener“ wahrgenommen.

Zentrale Aspekte der Parentifizierung

1. Definition

  • Rollenumkehr:
    Das Kind übernimmt elterliche Funktionen und Verantwortlichkeiten.
  • Verletzung der Generationsgrenze:
    Die Hierarchie zwischen Eltern und Kind wird gestört.
  • Überforderung:
    Die Anforderungen sind nicht altersgerecht und übersteigen die Fähigkeiten des Kindes.

Formen der Parentifizierung

Man unterscheidet hauptsächlich zwei Formen:

  • Emotionale Parentifizierung:
    Das Kind wird zur emotionalen Stütze, zum Zuhörer, Tröster oder Berater für die Eltern. Es kümmert sich um die emotionalen Bedürfnisse der Eltern, stellt dabei aber oft die eigenen Bedürfnisse zurück.
    Beispiele sind: Schlichten von Konflikten, Zuhören bei Eheproblemen, Trost spenden bei psychischer Belastung der Eltern.
  • Instrumentelle Parentifizierung:
    Das Kind übernimmt praktische, alltägliche Aufgaben und Pflichten des Haushalts oder der Geschwisterbetreuung in einem Maße, das nicht altersentsprechend ist (z. B. vollständige Haushaltsführung, Pflege kranker Elternteile, finanzielle Angelegenheiten).

Ursachen

Parentifizierung tritt häufig in Familien auf, in denen Eltern ihre Aufgaben aufgrund von Belastungen nicht vollständig wahrnehmen können. Typische Auslöser sind:

  • Psychische oder physische Erkrankungen eines Elternteils.
  • Trennung oder Scheidung der Eltern.
  • Finanzielle oder existenzielle Sorgen.
  • Überforderung der Eltern, oft unbewusst.
  • Abwesenheit eines oder beider Elternteile.

Auswirkungen und Folgen (im Kindes- und Erwachsenenalter)

  •  Oft eine Überlebensstrategie:
    Das Kind passt sich an, um das familiäre Gleichgewicht und die emotionale Bindung zu sichern.
  • Überforderung und chronischer Stress:
    Dies kann zu psychosomatischen Beschwerden (z. B. Kopfschmerzen) führen.
  • Entwicklungsdefizite:
    Das Kind muss spontane, sorglose und spielerische Anteile seiner Kindheit aufgeben, was seine emotionale Entwicklung beeinträchtigt.
  • Geringer Selbstwert und Schuldgefühle:
    Das Kind fühlt sich für das Wohlergehen der Familie verantwortlich.
  • Schwierigkeiten mit eigenen Bedürfnissen und Grenzen:
    Im Erwachsenenalter äußert sich dies oft in einem ausgeprägten Helfersyndrom, Perfektionismus, Angst vor Fehlern, Schwierigkeiten eigene Bedürfnisse wahrzunehmen oder co-abhängigen Beziehungen.
  • Psychische Probleme:
    Angstzustände, Depressionen und in schweren Fällen kann Parentifizierung als emotionaler Missbrauch betrachtet werden und zu langfristigen Traumatisierungen führen.

Wichtig: Eine vorübergehende, moderate Mitverantwortung im Haushalt, die altersgerecht ist und der Entwicklung dient, wird von der destruktiven Parentifizierung, die zu einer chronischen Rollenumkehr führt, unterschieden. Letzteres schadet der kindlichen Entwicklung.

Therapie bei Parentifizierung

Die Therapie bei Parentifizierung zielt darauf ab, die Folgen der Rollenumkehr aufzuarbeiten, die elterliche Rolle des Kindes aufzulösen und die gesunde Entwicklung sowie die Fähigkeit zur Selbstfürsorge wiederherzustellen. Die Behandlung ist oft langfristig, da die Verhaltensmuster tief verwurzelt sind.
Die Therapieansätze variieren je nachdem, ob das Kind oder der betroffene Erwachsene behandelt wird, umfassen aber häufig folgende Elemente:

Therapieziele für parentifizierte Erwachsene

Bei Erwachsenen, die als Kind parentifiziert wurden, liegt der Fokus auf der Heilung der Bindungstraumata und der Korrektur der erlernten dysfunktionalen Muster:

  • Aufarbeitung der Kindheit:
    Den Verlust der unbeschwerten Kindheit betrauern und die kindlichen Anteile im Erwachsenenalter „nachholen“ (z. B. durch spielerische Aktivitäten oder das Erlauben von Sorglosigkeit).
  • Identifikation und Auflösung der Muster:
    Das Bewusstwerden, wie die Parentifizierung das gegenwärtige Leben, die Beziehungen (oft Helfersyndrom, Bedürfnis, gebraucht zu werden) und das Selbstbild beeinflusst.
  • Wahrnehmung eigener Bedürfnisse:
    Parentifizierte Menschen haben oft verlernt, ihre eigenen Bedürfnisse zu spüren und zu artikulieren. Die Therapie hilft dabei, diese wieder zu entdecken und zu priorisieren.
  • Grenzen setzen lernen:
    Das Üben, „Nein“ zu sagen und sich von den (vermeintlichen) Erwartungen anderer zu distanzieren, ohne Schuldgefühle zu entwickeln.
  • Wiederherstellung der Autonomie: Unterstützung dabei, eigene Ziele und Werte zu spüren und sich vom übermäßigen Verantwortungsgefühl für andere zu lösen.

Therapeutische Methoden

In der Behandlung von Parentifizierung kommen verschiedene psychotherapeutische Ansätze zum Einsatz:

  • Systemische Familientherapie:
    Wird oft angewandt, wenn das Kind noch in der Familie lebt. Hier geht es darum, die Generationengrenzen wiederherzustellen, die Rollen klar zu definieren und die Kommunikation in der Familie neu zu ordnen.
  • Einzeltherapie (Tiefenpsychologisch/Verhaltenstherapeutisch):
    Hilft dem Erwachsenen, das Trauma aufzuarbeiten, frühe Bindungserfahrungen zu reflektieren und dysfunktionale Glaubenssätze abzulegen. Techniken aus der Schematherapie können dabei helfen, tief verwurzelte Muster wie das Aufopferungsschema zu verändern.
  • Transaktionsanalyse:
    Betrachtet die Parentifizierung als Teil eines „Lebensfahrplans“ oder „Skripts“ des Kindes, das im Erwachsenenalter aufgelöst werden muss.
  • „Inneres Kind“-Arbeit:
    Ein zentraler Bestandteil, um den Verlust der Kindheit zu verarbeiten und das „innere Kind“ liebevoll zu umsorgen, dem in der Kindheit die Fürsorge verwehrt blieb.

Interventionen bei Kindern und Eltern

Wenn die Parentifizierung im Kindesalter erkannt wird, sind familiendynamische Interventionen essenziell:

  • Für das Kind:
    Psychoedukation (altersgerechte Erklärung der Rollen), die Erlaubnis, Kind sein zu dürfen, und die Förderung von altersgemäßer Entwicklung (Spontaneität, Spielen). In schweren Fällen kann eine vorübergehende Herausnahme aus dem familiären Umfeld notwendig sein.
  • Für die Eltern:
    Die Eltern müssen die dysfunktionale Dynamik erkennen und ihre eigenen ungestillten Bedürfnisse bei anderen Erwachsenen (z. B. Partner, Freunde, eigene Therapie) befriedigen, anstatt ihr Kind dafür zu „missbrauchen“. Ziel ist die Übernahme der elterlichen Verantwortung.
  • Soziale Unterstützung:
    Der Aufbau eines externen sozialen Netzwerks kann der Familie helfen, die Last zu verteilen und die Notwendigkeit der Parentifizierung zu reduzieren.

Die Behandlung kann in milden Fällen ambulant erfolgen, bei chronifizierten und schwereren Fällen, oft begleitet von psychischen Störungen wie Depressionen oder Essstörungen, können spezialisierte Kliniken hilfreich sein.

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