Sokratischer Dialog
Der Sokratische Dialog (auch Sokratische Gesprächsführung oder Sokratische Methode) ist eine zentrale und effektive Technik, die insbesondere in der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) und anderen beratenden Kontexten eingesetzt wird, um Klienten zur Selbstreflexion anzuregen und dysfunktionale Denkmuster selbstständig zu erkennen und zu korrigieren.
Die Methode basiert auf dem philosophischen Vorgehen des Sokrates, der durch gezielte Fragen und Widerlegungen (Elenchos) scheinbar sicheres Wissen infrage stellte, um zu tieferen Einsichten zu gelangen (Maieutik, die „Geburtshilfe“ der Erkenntnis).
Kernprinzipien und Ziele
Der therapeutische Sokratische Dialog verfolgt nicht das Ziel, dem Klienten eine Lösung oder eine bestimmte Sichtweise vorzugeben. Im Gegenteil, er ist non-direktiv und entdeckend („guided discovery“).
- Maieutik (Geburtshilfe der Erkenntnis):
Der Therapeut hilft dem Klienten, die Wahrheit oder die adäquatere Sichtweise aus sich selbst heraus zu entwickeln. - Hinterfragen von Annahmen:
Es geht darum, die automatischen, oft unreflektierten und negativen Grundüberzeugungen oder Glaubenssätze („Ich bin ein Versager“, „Die Welt ist gefährlich“) zu identifizieren und auf ihre Logik und Angemessenheit hin zu überprüfen. - Kognitive Umstrukturierung:
Die Klienten werden dazu befähigt, ihre dysfunktionalen Kognitionen (Gedanken, Bewertungen) durch funktionalere und realistischere zu ersetzen. - Förderung der Selbstverantwortung:
Der Klient lernt, sein eigenes Denken kritisch zu hinterfragen und übernimmt die Verantwortung für die daraus resultierenden Erkenntnisse.
Die Therapeutische Haltung
Die Haltung des Therapeuten ist für den Erfolg entscheidend und unterscheidet sich stark von einem belehrenden Ansatz:
- Nicht-Wissende Haltung:
Der Therapeut gibt vor, nichts über die richtige Antwort zu wissen, und tritt als Partner im Dialog und Interessierter Forscher auf. - Empathie und Akzeptanz:
Die Überzeugungen des Klienten werden zunächst wertfrei angenommen und verstanden. - Echtes Interesse:
Die Fragen sind echt und dienen der Klärung, nicht der heimlichen Manipulation.
Techniken und Fragetypen
Der Sokratische Dialog ist ein strukturierter Prozess, der verschiedene Arten von gezielten Fragen nutzt:
| Fragetyp | Ziel | Beispiel |
| Klärungsfragen | Das Verständnis von Begriffen und Überzeugungen konkretisieren. | „Was genau meinen Sie, wenn Sie sagen, Sie sind wertlos?“ |
| Beweisfragen | Die Grundlage und Evidenz für eine Überzeugung prüfen. | „Welche Beweise sprechen dafür, dass Sie in jeder Situation versagen?“ |
| Alternativfragen | Andere Perspektiven und Erklärungen beleuchten. | „Könnte es eine andere Erklärung für das Verhalten Ihres Kollegen geben?“ |
| Konsequenzfragen | Die Folgen des dysfunktionalen Gedankens aufdecken. | „Wie fühlen Sie sich, wenn Sie diesen Gedanken glauben? Was kostet Sie diese Überzeugung?“ |
| Widerspruchsfragen | Inkonsistenzen im Denken des Klienten aufzeigen. | „Sie sagen, Sie sind ein Versager, aber Sie haben gerade erwähnt, dass Sie diesen großen Auftrag erfolgreich abgeschlossen haben. Wie passt das zusammen?“ |
Ablauf (vereinfachtes Modell)
Der Dialog verläuft typischerweise in folgenden Schritten, die jedoch flexibel sind:
- Identifikation der Kognition:
Der dysfunktionale Gedanke, die Annahme oder der Konflikt (z. B. „Ich muss perfekt sein“) wird vom Klienten klar benannt. - Exploration und Definition:
Der Therapeut stellt Klärungsfragen, um die genaue Bedeutung und die persönliche Definition des Klienten herauszuarbeiten („Was bedeutet Perfektion in dieser Situation genau?“). - Herausforderung (Elenchos):
Durch Beweis- und Widerspruchsfragen werden die Überzeugung und ihre logische Stimmigkeit geprüft. Der Klient wird mit Fakten konfrontiert, die seinem Glaubenssatz widersprechen. - Erweiterung und Neubewertung (Maieutik):
Es werden Alternativen gesucht und deren Konsequenzen betrachtet. Der Klient wird zur regressiven Abstraktion angeleitet, d. h., er soll die Essenz der neuen, funktionaleren Einsicht formulieren. - Zusammenfassung und Schlussfolgerung:
Der Klient fasst seine selbst gefundene, neue Erkenntnis zusammen.
Spezifische Dialogtypen
In der psychotherapeutischen Praxis werden oft drei Hauptformen des Sokratischen Dialogs unterschieden, je nach Art der Fragestellung und des Konflikts:
- Explikativer Dialog (Was ist das?):
Dient der Klärung von Begriffen und Werten (z. B. „Was ist ein guter Mensch?“). - Normativer Dialog (Darf ich das?):
Dient der Klärung moralischer oder ethischer Konflikte und Wertekonflikte. - Funktionaler Dialog (Soll ich das?):
Dient der Entscheidungsfindung und der Prüfung, welche Handlung oder Einstellung am ehesten zum erreichen Lebensziel führt.
Beispiel: Sokratischer Dialog zum Thema „Selbstwert“
Thema: Klientin (K) glaubt, sie sei „kein wertvoller Mensch“, nachdem sie einen Fehler bei der Arbeit gemacht hat.
| Rolle | Dialog-Abschnitt | Funktion im Dialog |
| K: | „Ich bin einfach nicht gut genug. Ich habe diesen Fehler gemacht, das beweist, dass ich kein wertvoller Mensch bin.“ | Identifikation der dysfunktionalen Kognition. |
| Th.: | „Ich verstehe. Das scheint Ihnen sehr wichtig zu sein. Helfen Sie mir bitte, das genauer zu verstehen: Was ist für Sie ein ‚wertvoller Mensch‘?“ | Explikative Klärungsfrage (Was ist das?). Definition des zentralen Begriffs. |
| K: | „Jemand, der keine Fehler macht, der erfolgreich ist und immer alles richtig hinkriegt. Jemand, der nie enttäuscht.“ | Erste Definition, oft rigide und unrealistisch. |
| Th.: | „Vielen Dank. Wenn ich Sie richtig verstehe, ist die Abwesenheit von Fehlern ein absolutes Kriterium für menschlichen Wert. Kennen Sie einen einzigen Menschen auf der Welt, der alle diese Kriterien erfüllt – also nie, wirklich nie enttäuscht, keinen Fehler macht und immer erfolgreich ist?“ | Beweisfrage und Konfrontation mit der Realität. Prüfen des Kriteriums auf Angemessenheit und Logik. |
| K: | (Zögert) „Nein, so gesehen natürlich nicht. Aber es fühlt sich so an, als müsste es so sein.“ | Einsicht in die Unangemessenheit der Regel. |
| Th.: | „Das Gefühl verstehe ich. Nehmen wir an, Ihre beste Freundin macht einen ähnlichen, großen Fehler. Würden Sie sie deshalb als ‚keinen wertvollen Menschen‘ abstempeln?“ | Perspektivwechsel/Alternativfrage. Anwendung der Regel auf eine andere Person, um die Inflexibilität zu demonstrieren. |
| K: | „Auf keinen Fall! Das wäre hart und unfair. Sie ist trotzdem ein wunderbarer Mensch.“ | Der Widerspruch wird deutlich. |
| Th.: | „Ah, interessant. Sie wenden bei Ihrer Freundin also andere Maßstäbe an, die nichts mit einem einmaligen Fehler zu tun haben. Welche Kriterien machen Ihre Freundin denn wertvoll?“ | Vertiefende Klärung. Sammlung neuer, funktionalerer Kriterien. |
| K: | „Ihre Hilfsbereitschaft, ihre Freundlichkeit, dass sie eine gute Zuhörerin ist und sich Mühe gibt.“ | Formulierung von Kriterien, die unabhängig vom Fehler sind. |
| Th.: | „Gut. Wenn diese Eigenschaften Ihre Freundin wertvoll machen: Treffen diese Eigenschaften nicht auch auf Sie zu? Gibt es Beweise für Ihre Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit oder dass Sie sich Mühe geben?“ | Zurückführen auf den Klienten. Indizien für den eigenen Wert sammeln (gezielte Evidenzsuche). |
| K: | „Ja, in der Regel schon. Ich strenge mich sehr an.“ | Neue Erkenntnis beginnt sich zu verfestigen. |
| Th.: | „Wenn wir nun Ihre neue Definition nehmen: Ein wertvoller Mensch zeichnet sich durch Freundlichkeit, Mühe und Hilfsbereitschaft aus, und nicht durch die Abwesenheit von Fehlern. Was bedeutet dann der Fehler bei der Arbeit für Ihren Wert als Mensch?„ | Zusammenfassung und Schlussfolgerung. Die neue, funktionale Kognition formulieren lassen. |
| K: | „Der Fehler ist… ein Fehler. Er ist ärgerlich und ich muss ihn korrigieren, aber er ändert nichts daran, wer ich als Mensch bin.“ | Selbst gefundene Einsicht (Ziel erreicht). |
Der Dialog hat die Klientin dazu geführt, ihre rigide Definition von „Wert“ selbst zu überprüfen, ihren Widerspruch zu erkennen (andere dürfen Fehler machen, sie selbst nicht) und eine neue, gesündere und realistischere Definition für sich zu finden.
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