Verhaltensexperiment

Ein Verhaltensexperiment ist eine zentrale therapeutische Intervention der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT), bei der Patienten aktiv und unter kontrollierten Bedingungen ihre dysfunktionalen Überzeugungen oder Befürchtungen in der Realität überprüfen.

Es geht darum, theoretische Annahmen, die in der Therapie erarbeitet wurden, in der Praxis auf ihren Wahrheitsgehalt zu testen.

Ziel und Funktionsweise

Das Verhaltensexperiment hat zwei Hauptziele:

  1. Kognitive Modifikation:
    Es soll die erwartete negative Konsequenz bewusst widerlegen, um die dahinterliegenden negativen automatischen Gedanken und Grundannahmen (Kognitionen) zu korrigieren.
  2. Veränderung des Verhaltens:
    Indem die negativen Erwartungen nicht eintreten, können Vermeidungsverhalten und Sicherheitsverhalten abgebaut werden, die das Problem bisher aufrechterhalten haben.

Ablauf: Im Gegensatz zur reinen Konfrontation (Exposition), bei der es primär um die Gewöhnung an einen Reiz geht, liegt der Fokus beim Verhaltensexperiment auf der Testung einer Hypothese.

Der typische Ablauf eines Verhaltensexperiments (VETS-Prinzip)

Verhaltensexperimente werden immer sorgfältig gemeinsam vom Therapeuten und Patienten geplant.

1. Vorbereitung (V): Die Hypothese aufstellen

  • Identifikation der Kognition:
    Welche spezifische Befürchtung oder Annahme soll überprüft werden?

    • Beispiel-Gedanke: „Wenn ich in der Öffentlichkeit rede, blamiere ich mich total, und alle halten mich für inkompetent.“
  • Hypothese:
    Was erwartet der Patient? (z. B. „Ich werde rot, meine Stimme bricht, und die Leute werden tuscheln.“)
  • Alternative/Gegen-Hypothese:
    Was ist realistischer? (z. B. „Die Leute werden kaum Notiz davon nehmen oder höchstens neutral reagieren.“)

2. Exposition/Testung (E/T): Die Durchführung

  • Der Patient wird in eine bewusst hergestellte Situation gebracht, in der die Hypothese getestet werden kann.
    • Beispiel-Aktion:
      Der Patient soll absichtlich in einem Supermarkt eine harmlose, leicht „peinliche“ Sache tun (z. B. einen Verkäufer nach einem Produkt fragen, obwohl er es vor sich sieht, oder einen kleinen Fehler machen).
  • Der Patient wird angehalten, das Sicherheitsverhalten (z. B. Blickkontakt vermeiden, schnell weglaufen) zu unterlassen, um die reinen Konsequenzen des Kernverhaltens zu erleben.

3. Schlussfolgerung/Auswertung (S): Der Realitäts-Check

  • Vergleich:
    Der Patient dokumentiert direkt nach dem Experiment, was tatsächlich passiert ist.
  • Diskussion:
    Die tatsächlichen Ergebnisse werden mit der ursprünglichen Befürchtung verglichen.

    • Ergebnis:
      Die Leute haben nicht getuschelt, der Verkäufer war freundlich, die Blamage blieb aus.
  • Neue Kognition:
    Basierend auf dieser Erfahrung wird eine neue, realistischere Überzeugung erarbeitet (z. B. „Es ist unangenehm, aber ich überlebe es, und die Welt stürzt nicht ein“).

Abgrenzung zur Expositionstherapie

Obwohl Verhaltensexperimente oft mit Exposition einhergehen (der Patient setzt sich einem angstauslösenden Reiz aus), ist der Mechanismus ein anderer:

Merkmal Verhaltensexperiment Konfrontation/Exposition
Primäres Ziel Überprüfung und Widerlegung einer Kognition. Gewöhnung (Habituation) an einen Angstreiz.
Fokus Was denke ich wird passieren? Wie fühlt sich die Angst an?
Wirkmechanismus Erwartungsverletzung (Diskonfirmation der Befürchtung). Angstreduktion durch wiederholte Reizdarbietung.

Verhaltensexperimente sind vielseitig einsetzbar, kommen aber besonders häufig bei Angststörungen (soziale Phobie, Panikstörung) und Depressionen zum Einsatz, um die zugrunde liegenden dysfunktionalen Denkmuster aufzubrechen.

« zurück zum Glossar-Index