Wahn

Der Wahn ist eines der zentralen und klinisch bedeutsamsten Symptome in der Psychopathologie. Er gehört zu den inhaltlichen Denkstörungen und ist definiert durch eine unerschütterliche falsche Überzeugung, die von der gesamten kulturellen Gruppe des Betroffenen nicht geteilt wird.

Definition und Kernmerkmale

Nach psychiatrischer und psychologischer Definition ist der Wahn eine Fehlbeurteilung der Realität, die drei Kernmerkmale aufweist:

Falschheit und Unkorrigierbarkeit:
Die Überzeugung steht im Widerspruch zur Realität und kann durch logische Argumente, Beweise oder gegenteilige Erfahrungen nicht korrigiert oder erschüttert werden.
Subjektive Gewissheit:
Der Betroffene hält seine Überzeugung für absolut wahr und gewiss.
Individualität:
Die Überzeugung ist außergewöhnlich und wird von der kulturellen oder sozialen Gruppe des Betroffenen nicht geteilt. (Zum Beispiel: Ein Glaube an höhere Mächte ist kulturell akzeptiert und daher kein Wahn, wohingegen die Überzeugung, die Nachbarn senden Strahlen, um die eigenen Gedanken zu kontrollieren, ein Wahn ist.)

Klassifikation des Wahns

Der Wahn wird nach dem Inhalt und der Entstehung klassifiziert:

A. Wahninhalte (Nach Thema)

Wahninhalt	Beschreibung	Beispiel
Verfolgungswahn	Die Überzeugung, verfolgt, überwacht, geschädigt oder vergiftet zu werden.	Die Regierung, der Geheimdienst oder die Nachbarn haben es auf mich abgesehen.
Beziehungswahn	Neutrale oder zufällige Ereignisse werden auf die eigene Person bezogen.	Die Nachrichtensprecherin im Fernsehen spricht nur in Codes zu mir.
Größenwahn	Die Überzeugung, eine besonders wichtige, mächtige oder berühmte Persönlichkeit zu sein.	Ich bin der Auserwählte, der die Menschheit retten wird.
Schuldwahn/Verarmungswahn	Die Überzeugung, große Schuld auf sich geladen zu haben oder finanziell ruiniert zu sein.	Ich bin für alles Schlechte auf der Welt verantwortlich.
Nihilistischer Wahn	Die Überzeugung, dass Teile der Welt oder des Körpers nicht mehr existieren.	Mein Körper fault von innen heraus, ich habe keinen Magen mehr.
Eifersuchtswahn	Die Überzeugung, der Partner sei untreu, ohne jeglichen realistischen Beweis.	Jedes Telefonat des Partners dient der Absprache eines Treffens mit dem Liebhaber.

B. Wahnentstehung (Nach Erscheinungsweise)

Wahnstimmung (Wahn-Aura):
Ein Zustand vor dem eigentlichen Wahn, in dem der Betroffene eine veränderte Atmosphäre erlebt, in der etwas Unheimliches oder Bedeutungsvolles in der Luft liegt (gespannte, ängstliche Stimmung), ohne zu wissen, was es ist.
Wahnwahrnehmung:
Eine normale Wahrnehmung erhält eine abnorme, wahnhafte Bedeutung. Die Wahrnehmung selbst ist korrekt, aber die Interpretation ist wahnhaft.
- Beispiel: Jemand sieht einen Vogel auf einem Baum landen (normale Wahrnehmung) und interpretiert: „Das ist das Zeichen, dass ich nun losziehen und meinen Auftrag erfüllen muss.“
Wahnidee (Wahneinfall):
Die wahnhafte Überzeugung entsteht plötzlich und primär ohne logischen Anlass oder vorhergehende Wahnstimmung. Die Überzeugung ist plötzlich einfach da.

Wichtige Störungsbilder

Der Wahn ist das Leitsymptom folgender psychischer Störungen:

Schizophrenie (F20):
Hier treten Wahnideen oft zusammen mit Halluzinationen und formalen Denkstörungen auf.
Wahnhafte Störung (Paranoia, F22):
Die Störung ist durch das isolierte Auftreten eines oder mehrerer Wahnsysteme (oft Verfolgungswahn) über einen längeren Zeitraum gekennzeichnet, wobei andere psychotische Symptome (wie Halluzinationen) fehlen oder nur flüchtig sind.
Affektive Störungen (F30-F39):
Bei schweren Depressionen (mit psychotischen Merkmalen) können Wahnideen auftreten (oft Schuldwahn oder nihilistischer Wahn); bei Manie oft Größenwahn.

Der Umgang mit Wahn in der Therapie erfordert Empathie, Akzeptanz der subjektiven Realität des Patienten und die Vermeidung direkter Konfrontation, da diese die Beziehung zum Therapeuten nur belasten würde.

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