Artifizielle Störung (Münchhausen-Syndrom)

Die Artifizielle Störung (engl. Factitious Disorder) ist der Oberbegriff für psychische Störungen, bei denen die Betroffenen vorsätzlich körperliche oder psychische Symptome erzeugen, vortäuschen oder stark übertreiben, um die Patientenrolle einzunehmen.

Das bekannteste und schwerwiegendste Erscheinungsbild der artifiziellen Störung ist das Münchhausen-Syndrom.

Definition und Kernmerkmale

Die Diagnostik basiert auf der Unterscheidung zwischen der Simulation (Betrug zur Erlangung externer Vorteile) und der artifiziellen Störung (Betrug zur Erlangung interner, psychologischer Vorteile).

Kriterium Beschreibung
Vorsätzliche Symptomerzeugung Der Patient fälscht, übertreibt, simuliert oder induziert (erzeugt aktiv) körperliche oder psychische Anzeichen einer Krankheit.
Primäres Motiv Das einzige erkennbare Motiv ist die Einnahme der Patientenrolle (das „Kranksein“ selbst). Dies beinhaltet die Zuwendung, Fürsorge, Empathie und die besonderen Rechte, die mit der Krankenrolle verbunden sind.
Ausschluss externer Anreize Äußere materielle Anreize müssen fehlen. Wäre das Ziel finanzielle Entschädigung, Vermeidung von Arbeit oder Erlangung von Medikamenten, läge eine Simulation vor.

Formen der Artifiziellen Störung

Die Störung wird nach dem DSM-5 in zwei Hauptformen unterteilt:

1. Artifizielle Störung, aufgezwungen an die eigene Person

(Factitious Disorder Imposed on Self, historisch: Münchhausen-Syndrom)

  • Der Betroffene schädigt sich selbst oder täuscht Symptome vor, um die Patientenrolle zu erlangen.
  • Beispiele: Einnahme von Abführmitteln zur Simulation einer schweren Durchfallerkrankung, Verfälschen von Urinproben, Erzeugung von Wunden oder Entzündungen durch Einspritzen von Fremdstoffen.

2. Artifizielle Störung, aufgezwungen an eine andere Person

(Factitious Disorder Imposed on Another, historisch: Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom)

  • Eine Person (meist die primäre Pflegeperson, oft die Mutter) erzeugt oder täuscht Symptome bei einem Abhängigen (meist einem Kind) vor.
  • Motiv: Die Täterin möchte die Aufmerksamkeit und Anerkennung erhalten, die mit der Rolle der aufopferungsvollen, besorgten Pflegeperson verbunden sind.
  • Diese Form ist besonders gefährlich, da sie oft eine schwere Kindesmisshandlung darstellt und das Leben des Kindes gefährdet.

Psychologische Dynamik

Die Betroffenen leiden meist unter tiefgreifenden psychischen Störungen (oft Persönlichkeitsstörungen, insbesondere Borderline-Züge) und erleben Schwierigkeiten in der Emotionsregulation und Beziehungsgestaltung.

Die Patientenrolle bietet ihnen oft:

  • Sicherheit und Struktur:
    Die Krankenhausumgebung bietet eine klare, sichere Struktur.
  • Akzeptanz und Nähe:
    Im Zustand der Krankheit erhalten sie unbedingte Zuwendung, die sie emotional stabilisiert.
  • Kontrolle:
    Sie kontrollieren die Situation, indem sie die Symptome und deren Schwere bestimmen.

Behandlung

Die Behandlung ist extrem herausfordernd, da die Betroffenen in der Regel die Täuschung leugnen und bei Konfrontation die Behandlung abbrechen („Doctor Hopping“).

  • Schutz:
    Beim Stellvertreter-Syndrom steht der Schutz des Opfers (Kindes) an erster Stelle, oft durch sofortige Trennung von der Pflegeperson.
  • Psychotherapie:
    Fokus liegt auf der psychodynamischen Aufarbeitung der emotionalen Defizite und dem Aufbau von funktionalen Skills zur Emotionsregulation und Beziehungsgestaltung, die nicht über die Patientenrolle laufen.
  • Interdisziplinäres Team:
    Die Betreuung muss in Kliniken interdisziplinär erfolgen, um Manipulationen vorzubeugen.
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