Somatische Belastungsstörung
Die Somatische Belastungsstörung (im Englischen: Somatic Symptom Disorder – SSD) ist eine psychische Störung, die durch das Vorhandensein von einem oder mehreren körperlichen Symptomen gekennzeichnet ist, die belastend sind oder zu erheblichen Einschränkungen im Alltag führen.
Das Besondere an dieser Störung ist jedoch nicht nur das körperliche Symptom selbst (das eine feststellbare medizinische Ursache haben kann oder auch nicht), sondern die übermäßige und anhaltende Reaktion der Betroffenen darauf.
Kernmerkmale
Im Zentrum der Somatischen Belastungsstörung stehen die psychologischen Reaktionen auf die körperlichen Symptome. Mindestens eines der folgenden Merkmale muss über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten bestehen:
- Übertriebene und anhaltende Gedanken über die Ernsthaftigkeit der Symptome.
- Anhaltend stark ausgeprägte Ängste in Bezug auf die Gesundheit oder die Symptome.
- Exzessiver Aufwand an Zeit und Energie, der für die Symptome oder Gesundheitssorgen aufgewendet wird.
Die körperlichen Beschwerden selbst können spezifisch (z. B. Bauchschmerzen) oder vage (z. B. Müdigkeit) sein. Die Symptome und die damit verbundenen Sorgen sind für die Betroffenen real und führen zu großem Leid.
Typische Körperliche Symptome
Die Art der körperlichen Beschwerden ist vielfältig und kann fast jedes Organsystem betreffen. Häufig sind dies:
- Schmerzen:
- Anhaltende, starke Rücken-, Kopf- oder Gelenkschmerzen (oft ohne hinreichenden körperlichen Befund, oder die Schmerzintensität wird durch körperliche Befunde nicht ausreichend erklärt).
- Diffuse Muskel- und Gelenkschmerzen (wie beim Fibromyalgiesyndrom).
- Magen-Darm-Beschwerden:
- Chronische Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall oder Verstopfung (oft im Rahmen eines Reizdarmsyndroms).
- Herz-Kreislauf- und Atmungssymptome:
- Herzrasen oder -stolpern (Palpitationen).
- Brustschmerzen oder Druckgefühl in der Brust.
- Gefühl der Kurzatmigkeit oder eines Kloßes im Hals (Globusgefühl).
- Neurologische Symptome/Missempfindungen:
- Schwindel oder Gleichgewichtsstörungen.
- Taubheitsgefühle oder Kribbeln (Parästhesien) in Gliedmaßen.
- Anhaltende starke Erschöpfung oder Müdigkeit.
Beispiele für Übermäßige Gedanken und Verhaltensweisen
Das Entscheidende bei der Somatischen Belastungsstörung ist die exzessive psychische Reaktion auf die Symptome:
1. Übermäßige gedankliche Beschäftigung (Kognitionen)
- Katastrophisieren:
Die ständige Überzeugung, an einer schwerwiegenden, unentdeckten Krankheit zu leiden (z.B. Krebs, Herzleiden), obwohl medizinische Untersuchungen dies wiederholt ausschließen oder die Befunde harmlos sind. - Überinterpretation:
Normale oder geringfügige Körperempfindungen (z.B. ein leichtes Stechen, Magenknurren) werden sofort als gefährliches Anzeichen einer schlimmen Erkrankung gedeutet. - Andauernde Sorge:
Die Gedanken kreisen unangemessen und anhaltend um die Schwere der Symptome.
2. Krankheitsbezogene Verhaltensweisen
- Exzessive Inanspruchnahme des Gesundheitssystems („Doctor Shopping“):
- Häufige Arztwechsel oder gleichzeitige Konsultation mehrerer Fachärzte (z.B. Orthopäde, Kardiologe, Gastroenterologe) in der Hoffnung, endlich eine organische Ursache zu finden.
- Wiederholte, unnötige oder teils riskante medizinische Untersuchungen oder Behandlungen (z.B. CTs, Operationen).
- Kontroll- und Sicherheitsverhalten:
- Übermäßige und detaillierte Selbstbeobachtung des Körpers (z.B. ständiges Tasten nach Schwellungen, Messen von Blutdruck/Puls, Prüfen des Stuhls).
- Vermeidung von Aktivitäten (Schonungsverhalten) aus Angst, die Symptome könnten sich verschlimmern oder dem Körper schaden, was zu einer erheblichen Beeinträchtigung im Alltag (Beruf, Sozialleben) führt.
- Geringe Ansprechbarkeit auf Beruhigung:
Die Betroffenen fühlen sich durch medizinische Entwarnung oft nicht ernst genommen und ihre Angst bessert sich nur kurzfristig oder gar nicht.
Wichtig: Ein Patient leidet erst dann unter einer Somatischen Belastungsstörung, wenn die körperlichen Symptome zusammen mit der exzessiven gedanklichen und verhaltensbezogenen Belastung über einen längeren Zeitraum (typischerweise mindestens sechs Monate) bestehen und zu erheblichen Einschränkungen im Alltag führen.
Ursachen
Neuere Forschungergebnisse unterstützen ein bio-psycho-soziales Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Somatischen Beslastungsstörung:
- Erhöhte Schmerzsensitivität:
Biologische Faktoren, wie eine erhöhte Empfindlichkeit des zentralen Nervensystems gegenüber normalen Körperempfindungen oder eine gestörte Schmerzverarbeitung, spielen eine Rolle. - Prädiktive Kodierung:
Neuere Modelle der Wahrnehmung („Predictive Coding“) legen nahe, dass die Erwartungen und Ängste des Gehirns („Top-down“-Prozesse) die Verarbeitung und Interpretation von Körperempfindungen („Bottom-up“-Signale) stark beeinflussen und die Beschwerden dadurch verstärkt werden können. - Bindungserfahrungen:
Die Bindungsforschung liefert Hinweise, dass unsichere Bindungsmuster und frühe traumatische Erfahrungen die Stressvulnerabilität und die Schmerzschwelle lebenslang erhöhen können, was zur Entstehung somatoformer Beschwerden beitragen kann. - Psychologische Faktoren:
- Katastrophisierendes Denken (Annahmen des Schlimmsten),
- ein starker Aufmerksamkeitsfokus auf körperliche Beschwerden und
- ungünstige Krankheitsverhaltensmuster sind entscheidend für die Chronifizierung.
Abgrenzung zur früheren „Somatoformen Störung“
Die Diagnose „Somatische Belastungsstörung“ wurde mit dem DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) eingeführt und hat größtenteils die früheren Diagnosen der Somatoformen Störungen ersetzt, wie z. B. die Somatisierungsstörung.
Der wesentliche Unterschied liegt im diagnostischen Fokus:
Frühere Somatoforme Störungen (z. B. ICD-10)
Hauptkriterium: Es darf keine ausreichende körperliche Ursache für die Symptome gefunden werden.
Somatische Belastungsstörung (DSM-5 / ICD-11)
Hauptkriterium: Die exzessiven Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen in Bezug auf die Symptome sind ausschlaggebend – unabhängig davon, ob eine medizinische Erkrankung vorliegt oder nicht.
Die neue Klassifikation legt den Fokus weg von der reinen Abwesenheit einer organischen Erklärung hin zur psychischen Belastung und dem maladaptiven Umgang mit den körperlichen Beschwerden.
Behandlung
Die Behandlung ist in der Regel psychosomatisch und interdisziplinär.
In der Psychotherapie gilt die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) als die Therapie der Wahl. Sie zielt darauf ab, durch
- Kognitive Umstrukturierung
- die übermäßige Fokussierung auf die Symptome und die katastrophisierenden Gedanken zu reduzieren,
- die Fehlinterpretationen von Körperempfindungen zu korrigieren und
- den Umgang mit Stress und Emotionen zu verbessern.
- Verhaltensänderungen
- Reduzierung des Schonverhaltens und
- Reduzierung des übermäßigen Inanspruchnahme des Gesundheitssystems („Doctor Hopping“).
- Exposition/Aktivierung
Schrittweise körperliche Aktivierung trotz und mit den Beschwerden, um die Toleranz zu erhöhen und dem Schonverhalten entgegenzuwirken.
In der medizinischen Grundversorgung ist ein empathisches, vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis essenziell, in dem der Leidensdruck des Patienten ernst genommen wird. Es wird empfohlen, in festen, beschwerdeunabhängigen Terminen das Gespräch zu suchen.
Dabei soll die interdisziplinäre Behandlung den Patienten unterstützen, ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell zu entwickeln, das ihm ermöglicht, die Zusammenhänge zwischen körperlichen Symptomen, psychischer Belastung und sozialen Faktoren besser zu verstehen und zu bewältigen (Stichwort: Bewältigung statt alleiniger Heilung).
In manchen Fällen werden auch Entspannungsverfahren oder in Kombination Medikamente (z. B. Antidepressiva) bei gleichzeitig bestehenden Ängsten oder Depressionen eingesetzt.
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