Somatoforme Störungen
Somatoforme Störungen waren im ICD-10 eine Gruppe psychischer Störungen, bei denen körperliche Symptome im Vordergrund standen, für die jedoch keine ausreichende organische oder physiologische Erklärung gefunden werden konnte. Die Psychologie befasst sich intensiv mit den Entstehungsmechanismen und therapeutischen Ansätzen dieser Störungen, da sie maßgeblich durch kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Faktoren beeinflusst werden.
Heute wird der Begriff Somatoforme Störung in der aktuellen klinischen Praxis zunehmend durch die Begriffe Körperliche Belastungsstörung (ICD-11) oder Somatische Symptomstörung (auch Somatische Belastungsstörung (SSD) (DSM-5) ersetzt, um die psychische Belastung und die maladaptiven Verhaltensmuster der Patienten in den Vordergrund der Behandlung zu stellen.
Psychologische Definition und Merkmale
Somatoforme Störungen (nach ICD-10 F45) sind dadurch gekennzeichnet, dass die Betroffenen unter tatsächlich erlebten körperlichen Beschwerden (z. B. Schmerzen, Übelkeit, Schwindel) leiden, die zu erheblicher Belastung und Beeinträchtigung führen.
Kernmechanismen aus psychologischer Sicht:
- Überzeugung von der körperlichen Krankheit:
Die Patienten sind in der Regel fest davon überzeugt, dass ihre Beschwerden eine rein körperliche Ursache haben. Psychische Faktoren werden vehement abgelehnt oder nicht erkannt. - Unwillkürlichkeit:
Die Symptome werden nicht absichtlich vorgetäuscht (Abgrenzung zur Simulation). Der Leidensdruck ist real. - Kognitive Verzerrungen:
Die Störung wird primär durch dysfunktionale Denk– und Verhaltensmuster aufrechterhalten.
Psychologische Erklärungsmodelle
Die Psychologie bietet verschiedene Modelle, um die Entstehung und Aufrechterhaltung somatoformer Symptome zu verstehen:
1. Kognitives Modell (Fehlinterpretation)
Dieses Modell sieht die fehlgeleitete Verarbeitung von Körpersignalen als zentralen Mechanismus.
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- Erhöhte Körperaufmerksamkeit (Scanning):
Betroffene richten ihre Aufmerksamkeit konstant und übermäßig auf ihre körperlichen Vorgänge (Atmung, Herzschlag, leichte Schmerzen). - Katastrophisierende Interpretation:
Normale oder harmlose Körperempfindungen werden als Anzeichen einer schweren, lebensbedrohlichen Krankheit fehlinterpretiert. - Angst und Stress:
Die katastrophisierenden Gedanken führen zu Angst, die ihrerseits körperliche Symptome (z. B. Muskelspannung, Herzrasen) verstärkt und den Teufelskreis aufrechterhält.
- Erhöhte Körperaufmerksamkeit (Scanning):
2. Emotions- und Stressmodell
Hier steht die Schwierigkeit im Umgang mit Gefühlen im Vordergrund.
- Alexithymie:
Viele Patienten weisen eine Alexithymie auf, die Unfähigkeit, eigene Emotionen wahrzunehmen, zu differenzieren und verbal auszudrücken. - Somatisierung:
Psychischer Stress oder unbewältigte emotionale Konflikte können nicht auf psychischer Ebene verarbeitet werden und werden stattdessen auf die körperliche Ebene verschoben (Somatisierung). Der Körper wird zum Ausdrucksmittel für seelische Not.
3. Lernpsychologisches Modell (Krankheitsgewinn)
Das Verhalten wird durch Verstärkung aufrechterhalten.
- Sekundärer Krankheitsgewinn:
Das Symptom verschafft dem Betroffenen unbewusst Vorteile (z. B. mehr Zuwendung, Vermeidung von unangenehmen Pflichten, Entlastung). Dies verstärkt das Krankheitsverhalten.
Psychotherapeutische Behandlung
Die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) gilt als die am besten untersuchte und wirksamste Methode zur Behandlung somatoformer Störungen und zielt darauf ab, die oben genannten Mechanismen zu durchbrechen.
1. Psychoedukation
- Ziel:
Vermittlung eines psychophysiologischen Krankheitsmodells, in dem der Patient versteht, wie Stress, Kognitionen und Emotionen körperliche Symptome beeinflussen können, ohne die Existenz der Schmerzen zu leugnen. - Fokus:
Weg von der Suche nach einem reinen Organbefund hin zum Verständnis der Aufrechterhaltungsfaktoren.
2. Kognitive Umstrukturierung
- Ziel:
Die katastrophisierenden Gedanken und die Fehlinterpretationen zu korrigieren. - Technik:
Identifizierung und Hinterfragen von Gedanken wie „Dieses Herzstolpern ist tödlich“ und Ersetzen durch realistischere Alternativen.
3. Verhaltensänderung und Stressbewältigung
- Reduktion des Kontrollverhaltens:
Abbau des ständigen Body-Checkings (Überprüfen des Pulses, Beobachten der Symptome) und der übermäßigen Arztbesuche. - Aktivitätsaufbau:
Trotz der Symptome lernen, den Alltag wieder aufzunehmen und die Vermeidung von Aktivitäten (die oft zur Chronifizierung beitragen) zu beenden. - Entspannung und Achtsamkeit:
Erlernen von Techniken zur Stress- und Angstminderung.
Die erfolgreiche psychologische Behandlung führt dazu, dass die Patienten ihre Symptome nicht mehr als Ausdruck einer tödlichen Krankheit, sondern als Teil einer übererregten körperlichen Reaktion verstehen und ihre Selbstwirksamkeit im Umgang damit zurückgewinnen.
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